Der Maler und die Lady (German Edition)
Wort zu sagen, ging Lara um den Tisch und betrachtete das halbfertige Stück von allen Seiten. Fairchild ließ kein Auge von seiner Arbeit. Nach einer Weile richtete Lara sich auf, rieb sich mit dem Handrücken die Nase und spitzte die Lippen.
„Hmmm.“
„Das ist lediglich deine Meinung.“
„Eben.“ Einen Moment knabberte Lara an ihrem Daumennagel.
„Du kannst durchaus anderer Meinung sein. Anatole, komm mal rüber und schau dir das an.“
Lara grinste, als sie seinen vernichtenden Blick merkte. Anatole durchquerte das Studio und betrachtete pflichtgemäß den Lehmklumpen.
Seiner Meinung nach war es ein akzeptabler Versuch. Anatole sah einen halbfertigen Falken mit gespreizten Krallen und kaum merklich geöffnetem Schnabel. Die Kraft, die Lebendigkeit, die aus Fairchilds Bildern und den Skulpturen seiner Tochter sprach, war einfach nicht da. Vergeblich suchte Anatole sich aus der Affäre zu ziehen.
„Hmm“, begann er, doch Lara ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Da hörst du es, er stimmt mir zu.“ Sie tätschelte ihrem Vater den Kopf und blickte selbstgefällig auf ihn herunter.
„Was versteht er denn davon?“, fragte Fairchild. „Er ist Maler.“
„Und das, mein lieber Herr Papa, bist auch du, und obendrein ein hervorragender.“
Fairchild bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihn das Kompliment freute. Verlegen bohrte er einen Finger in den weichen Ton. „Du schreckliches Balg, bald werde ich auch ein brillanter Bildhauer sein.“
„Ich werde dir Knetmasse zu deinem Geburtstag schenken“, erbot sich Lara. Sie quietschte laut auf, als ihr Vater sie am Ohr zog. „Du Unhold!“ Schnaufend rieb sie sich das Ohrläppchen.
„Hüte deine Zunge, oder ich mache einen van Gogh aus dir!“
Der kleine Mann lachte gackernd, aber Lara war wie zur Salzsäule erstarrt. Die ihr eigene Elastizität, selbst wenn sie vollkommen ruhig stand, hatte sie verlassen. Sie war nicht wütend, aber hatte sie vielleicht … Angst? Doch nicht vor Fairchild! Lara, dessen war Anatole gewiss, würde nie Angst vor einem Mann haben und ganz besonders nicht vor ihrem Vater. Fairchild war so berechenbar wie verblüffend.
Lara hatte sich sofort wieder gefangen und reckte das Kinn. „Ich werde Anatole jetzt erst mal mein Studio zeigen. Dann kann er sich häuslich einrichten.“
Der zweite Turm war genauso gebaut wie der erste. Lediglich das Inventar war ein anderes. Außer Farben, Pinseln und Leinwand sah man Messer, Meißel und Hämmer. Rohe Brocken von Kalkstein und Marmor und unbearbeitete Holzklötze lagen herum. Anatoles Malutensilien waren der einzige ordentliche Punkt in diesem Raum. Cards hatte eigenhändig seine Sachen hergebracht.
Auf einem langen Tisch lagen Werkzeuge, Hobelspäne, Lappen und ein zusammengeknülltes Stoffbündel, das man für einen Malerkittel halten konnte. In einer Ecke stand ein Hi-Fi-Turm. Ein antiker Gasofen war in eine Wand eingebaut. Davor stand eine leere Staffelei.
Genau wie in Fairchilds Turmzimmer war Anatole das hier herrschende Chaos durchaus nicht unbekannt. Das geräumige Atelier war sonnendurchflutet, ruhig und gefiel ihm auf den ersten Blick.
„Der Raum bietet ausreichend Platz“, erklärte Lara mit einer einladenden Geste. „Mach es dir bequem, wo du möchtest. Ich glaube nicht, dass wir uns ins Gehege kommen werden“, setzte sie mit einem zweifelnden Schulterzucken hinzu. Ihr blieb nichts anderes übrig, sie musste das Beste aus der Situation machen. Es war allemal besser, er arbeitete bei ihr, anstatt das Studio mit ihrem Vater und dem dort aufbewahrten van Gogh zu teilen. „Bist du sehr temperamentvoll?“
„Das würde ich nicht sagen“, antwortete Anatole abwesend, während er seine Malutensilien auspackte. „Andere sind es vielleicht. Bist du denn temperamentvoll?“
„Oh ja.“ Lara ließ sich auf einen Stuhl am Arbeitstisch fallen und nahm ein Stück Holz in die Hand. „Ich kriege Wutanfälle und verfalle im nächsten Moment in tiefste Melancholie. Ich hoffe, ich werde dich nicht stören.“ Anatole drehte sich um und wollte etwas erwidern, aber Lara starrte auf das Holzstück in ihrer Hand, als suchte sie etwas darin Verborgenes. „Ich versuche, Gefühle darzustellen. Ich bin also unberechenbar.“
Neugierig horchte Anatole auf, ließ die halb ausgepackten Sachen liegen und trat an das hinter Lara stehende Regal. Dort standen etwa ein Dutzend Arbeiten in verschiedenen Stadien der Fertigstellung. Er griff nach einer polierten Schnitzerei
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