Der Mann auf dem Balkon
Beck zuckte die Schultern und legte die Papiere neben Melanders Ellenbogen.
»Ich will mir gerade Kaffee bestellen«, sagte er, »wollt ihr auch welchen?« Melander schüttelte ohne aufzusehen den Kopf.
»Das wäre nicht schlecht«, meinte Gunvald Larsson.
Martin Beck ging hinaus, schloß die Tür hinter sich und stieß mit Kollberg zusammen, der gerade angehastet kam. Martin Beck sah die Aufregung in Kollbergs rundem Gesicht und fragte: »Was ist denn mit dir los?«
Kollberg packte ihn am Arm und sagte so schnell, daß die Worte sich fast überstürzten: »Martin, es ist schon wieder passiert. Er hat wieder zugeschlagen. Im Tantolunden.«
Sie fuhren mit heulenden Sirenen über die Västerbron. Gleichzeitig hörten sie im Polizeifunk, daß alle erreichbaren Streifenwagen zur Absperrung nach Tantolunden dirigiert wurden. Bisher wußten Martin Beck und Kollberg nur, daß man in der Nähe des Freilichttheaters ein totes Mädchen gefunden hatte, daß die Tat an den Mord im Vanadislunden erinnerte und die Leiche so kurz nach der Tat aufgefunden worden war, daß der Mörder sich noch nicht weit vom Tatort entfernt haben konnte. Als sie am Sportplatz Zinkensdamm vorbeifuhren, sahen sie einige schwarze Wagen hinunter zur Wollmar Yxkullsgatan fahren. Außerdem standen einige Autos auf dem Ringvägen und im Park.
Sie bremsten vor der Reihe niedriger alter Holzhäuser in der Sköldgatan. Der Weg in den Park hinein war durch ein Auto mit Antenne versperrt. Auf dem schmaleren Fußgängerweg stand ein uniformierter Polizist, der gerade ein paar Kinder zurückrief, die auf dem Weg zum Hügel waren.
Martin Beck ging mit langen, schnellen Schritten auf den Polizisten zu, ohne sich darum zu kümmern, ob Kollberg ihm folgen konnte, grüßte den Mann, der auf eine Stelle im Park zeigte, und ging ohne Aufenthalt weiter. Das Gelände war sehr hügelig, und erst, als er den Hügelkamm fast erreicht hatte, sah er etwa zwanzig Meter neben dem Weg in einer Senke eine Gruppe Männer stehen. Etwas weiter, dort, wo der Weg sich gabelte, hinderte ein uniformierter Polizist Neugierige am Näherkommen.
Jetzt hatte Kollberg ihn endlich eingeholt. Sie hörten, daß die Polizisten sich unterhielten. Beim Anblick der beiden verstummten sie, grüßten und traten dann zur Seite. Martin Beck hörte Kollberg hinter sich keuchen.
Das Mädchen lag auf dem Rücken im Gras, die angewinkelten Arme über dem Kopf.
Das linke Bein war gebeugt und das Knie so zur Seite gedreht, daß der Schenkel im rechten Winkel zum Körper lag. Das rechte Bein war seitwärts ausgestreckt. Das Gesicht des Mädchens war nach oben gewandt, die Augen waren halb geschlossen, der Mund stand offen. Aus einem Nasenloch rann ein Blutfaden. Ein gelbes Plastespringseil war mehrere Male um den Hals des Mädchens geschlungen. Es trug ein gelbes, ärmelloses Kittelkleid. Die drei unteren Knöpfe waren abgerissen. Der Schlüpfer fehlte. An den Füßen hatte es weiße Socken und rote Sandalen. Es schien ungefähr zehn Jahre alt zu sein. Es war tot.
Martin Beck hatte das alles in wenigen Sekunden in sich aufgenommen. Länger ertrug er den Anblick nicht. Er drehte sich um und sah den Weg entlang. Den Hügel herab kamen zwei Männer vom Labor angehastet. Sie trugen graublaue Overalls; der eine schleppte einen großen grauen Aluminiumkasten, der zweite hatte ein Seil in der einen Hand und eine schwarze Tasche in der anderen. Als sie heran waren, sagte der Mann mit dem Seil: »Der Idiot, der sein Auto mitten auf den Weg gestellt hat, soll es wegfahren, damit wir näher her-anfahren können.« Dann warf er einen Blick auf die Tote, ging hinunter zur Wegegabelung und begann, das Gebiet mit dem Seil abzusperren.
Ein Streifenwagenfahrer mit Lederjacke stand am Rand des Weges und sprach in ein walkie-talkie, ein Mann in Zivil stand breitbeinig neben ihm und hörte zu. Martin Beck erkannte den in Zivil wieder. Er hieß Manning und gehörte zur Schutzpolizei des 2. Reviers.
Auch Manning hatte Martin Beck und Kollberg erkannt; er sagte einige Worte zu dem Streifenwagenfahrer und kam auf sie zu.
»Wir haben uns bemüht, das ganze Gebiet, so gut es eben geht, abzusperren«, meldete er.
»Wie lange ist es her, daß man sie gefunden hat?« fragte Martin Beck.
Manning sah auf seine Armbanduhr.
»Vor fünfundzwanzig Minuten ist der erste Wagen hier eingetroffen«, antwortete er.
»Hat jemand den Täter gesehen?« wollte Kollberg wissen.
»Leider nicht.«
»Wer hat sie gefunden?« fragte Martin
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