Der Mann auf dem Balkon
nett aus, fand ich jedenfalls. Er war nicht gerade schön - mit seiner großen Nase und seinem -kleinen Mund. Aber er sah gut aus.«
»Danke, Frau Engström«, sagte Martin Beck, »nun will ich nicht länger stören.«
Sie begleitete ihn zur Tür und schloß diese erst, als die Haustür hinter ihm ins Schloß fiel.
Martin Beck tat einen tiefen Atemzug und ging mit langen, schnellen Schritten die Straße hinauf. Er hatte Sehnsucht nach seinem Schreibtisch. Dort fand er zwei kurzgefaßte, schriftliche Mitteilungen vor.
Die erste stammte von Melander: Die Frau, die den Fahrschein verkauft hat, heißt Gunda Persson. Erinnert sich an nichts. Hat keine Zeit, sich die Fahrgäste anzusehen, sagt sie.
Die zweite war von Hammar: Komm sofort rüber. Wichtig.
20
Gunvald Larsson stand am Fenster und betrachtete sechs Straßenarbeiter, die wiederum einen siebten betrachteten, der sich auf eine Schaufel stützte.
»Erinnert mich an eine Geschichte«, sagte er. »Einmal lagen wir mit einem Minensuchboot in der Nähe von Kalmar. Ich sitze im Navigationsraum, zusammen mit dem Zweiten, und der Junge, der Brückenwache hat, kommt herein und sagt:
›Leutnant, da steht ein toter Mann am Kai.‹ - ›Quatsch‹, sage ich. ›Doch, Leutnant, sagt er, da steht ein toter Mann am Kai.‹ - ›Es gibt keine toten Männer, die auf irgendeinem Kai herumstehen!‹ sage ich. ›Reißen Sie sich zusammen, Johansson - ›Doch, Leutnant, sagt er, ›da steht ein toter Mann. Ich habe ihn die ganze Zeit über beobachtet, und er hat sich seit Stunden nicht bewegt.‹ Und der Zweite steht auf, sieht durch das Bulleye nach draußen und sagt: ›Quatsch, das ist doch ein Kommunalarbeiter.‹«
Der Mann auf der Straße ließ die Schaufel fallen und ging mit den anderen davon. Es war fünf Uhr, und es war noch immer Freitag.
»Was für eine Zucht«, knurrte Gunvald Larsson, »bloß dastehen und glotzen.«
»Und was tust du selbst?« fragte Melander.
»Dastehen und glotzen natürlich. Und wenn der Polizeidirektor sein Büro gegenüber hätte, würde er sicher auch am Fenster stehen und mich anglotzen, und wenn der Polizeipräsident sein Büro eine Treppe höher hätte, so würde er dastehen und den Polizeidirektor anglotzen, und wenn der Innenminister…«
»Nimm lieber das Telefon ab«, riet Melander.
Martin Beck war gerade ins Zimmer gekommen. Er stand neben der Tür und blickte nachdenklich Gunvald Larsson an, der gerade sagte: »Was soll ich dabei tun? Dir Polizeihunde schicken?«
Er schmetterte den Hörer auf die Gabel, starrte Martin Beck an und fragte: »Was ist mit dir los?«
»Du hast da eben etwas gesagt, das mich an etwas erinnerte.«
»Polizeihunde?«
»Nein, etwas, was du unmittelbar davor gesagt hast.«
»Und an was hat dich das erinnert?«
»Das weiß ich eben nicht. Es war etwas, was mir einfach nicht wieder einfallen will.«
»Damit stehst du nicht allein«, meinte Gunvald Larsson.
Martin Beck zuckte die Schultern und verkündete: »Für heute nacht ist eine Razzia angesetzt. Ich habe eben mit Hammar gesprochen.«
»Razzia? Die Leute sind ja jetzt schon erledigt. Wie sollen die morgen aussehen?«
wandte Gunvald Larsson ein.
»Scheint mir auch nicht sehr erfolgversprechend«, meinte Melander. »Wer hat denn diese kluge Idee gehabt?«
»Keine Ahnung. Hammar scheint auch nicht sehr glücklich über zu sein.«
»Wer ist zur Zeit schon glücklich!« philosophierte Gunvald Larsson.
Martin Beck war nicht dabeigewesen, als der Beschluß gefaßt wurde, sonst hätte er davon abgeraten. Wahrscheinlich war der tieferliegende Grund dafür das Fehlen jedweder Spur bei ihrer Ermittlungsarbeit und das allgemeine Gefühl, daß irgend etwas geschehen müsse. Die Lage war zweifellos sehr ernst. Die Presse und das Fernsehen stachelten die Allgemeinheit mit ihren vagen Angaben über die Ermittlungen gleichsam auf, und Gedankengänge wie: »Die Polizei tut nichts« oder:
»Die Polizei steht machtlos da«, wurden immer häufiger laut. Fünfundsiebzig Mann waren bereits mit den Ermittlungen beschäftigt, und der Druck von außen wuchs ständig. Mit jeder Stunde gingen neue Hinweise ein, und alle mußten überprüft werden, obwohl die meisten bereits bei flüchtiger Beurteilung als völlig wertlos abgetan werden konnten. Dazu kam der innere Druck, das Wissen, daß der Mörder nicht nur gefaßt, sondern so schnell wie möglich gefaßt werden mußte. Es war ein makabrer Wettlauf mit dem Tod, und die Ansatzpunkte waren äußerst dürftig.
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