Der Mann auf dem Balkon
Sie richtig verstanden habe, bringen Sie Bosse nicht mehr zu dieser Pflegestelle?«
»Nein. Die Leute haben keine eigenen Kinder, da wurde es Bosse zu langweilig. Man sagte mir einen Platz in einer Tagesstätte zu, aber dann bekam ihn eine Mutter, die Krankenschwester ist. Die werden in unserer Gegend bevorzugt versorgt.«
»Wo ist Bosse jetzt tagsüber?«
»Zu Hause. Ich arbeite jetzt nicht mehr.«
»Seit wann bringen Sie ihn nicht mehr zu Engströms?«
Frau Oskarsson überlegte eine Weile, dann antwortete sie: »Seit der ersten Aprilwoche. Ich hatte eine Woche frei. Später, als ich wieder anfangen sollte zu arbeiten, war dieser Tagesplatz besetzt. Frau Engström hatte ein anderes Tageskind genommen.«
»War Bosse gern bei ihr?«
»Aber ja. Aber am liebsten hatte er wohl Herrn Engström. Tagpappa also. Glauben Sie, daß er das war, der Bosse den Fahrschein gegeben hat?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Martin Beck, »aber ich werde versuchen, es herauszubekommen.«
»Ich möchte Ihnen gerne helfen«, sagte Frau Oskarsson. »Aber wir fahren heute abend weg, das wissen Sie doch?«
»Ja, ich weiß. Gute Reise! Und grüßen Sie Bosse.«
Martin Beck legte den Hörer auf, dachte eine Weile nach, nahm den Hörer wieder ab und rief die Abteilung für Sittlichkeitsverbrechen an.
Während er auf die neue Verbindung wartete, zog er eine auf dem Tisch liegende Akte zu sich heran. Er nahm die Niederschrift des nächtlichen Verhörs von Rolf Evert Lundgren heraus und überlas noch einmal die spärliche Beschreibung, die Lundgren von dem Mann gegeben hatte, den er im Vanadislunden gesehen hatte. Frau Oskarssons Beschreibung von »Tagpappa« war womöglich noch dürftiger konnte aber möglicherweise auf den gleichen Mann zutreffen.
In der Kartei der Sittlichkeitsabteilung fand sich kein Eskil Engström.
Martin Beck klappte den Aktendeckel wieder zu und ging ins Nebenzimmer. Gunvald Larsson saß hinter dem Schreibtisch und starrte mit abwesendem Blick aus dem Fenster, während er sich mit dem Papiermesser in den Zähnen bohrte.
»Wo ist Lennart?« fragte Martin Beck.
Gunvald Larsson beendete unwillig seine dentalen Forschungen, wischte den Brieföffner am Jackenärmel ab und antwortete: »Woher soll ich das wissen?«
»Und Melander?«
Gunvald Larsson legte den Brieföffner in die Federschale und zuckte die Schultern.
»Vermutlich auf dem Klo. Was willst du denn?«
»Nichts Besonderes. Worüber grübelst du nach?«
Gunvald Larsson antwortete nicht sofort. Erst als Martin Beck zur Tür ging, sagte er:
»Manchmal denke ich, die Menschen sind nicht richtig bei Verstand.«
»Wieso das?«
»Ich habe eben mit Hjelm gesprochen. Er wollte dich übrigens haben. Ja, noch was: Einer unserer Leute hat einen Schlüpfer in einem Gebüsch am Hornstulls Strand gefunden. Ohne uns zu benachrichtigen, gibt er ihn ins Labor und sagt, daß es vielleicht der Schlüpfer sei, der bei der Leiche im Tantolunden vermißt wurde. Dann stehen die Leute im Labor da und starren auf einen Schlüpfer Größe 44, der selbst für Kollberg zu groß wäre, und fragen sich, was zum Teufel sie damit sollen. Und das kann man ihnen nachfühlen. Darf man in unserem Beruf eigentlich so dumm sein, wie man will?«
»Hin und wieder frage ich mich das auch«, antwortete Martin Beck. »Was hat er noch gesagt?«
»Wer?«
»Hjelm.«
»Daß du ihn anrufen sollst, wenn du fertig bist mit Telefonieren.«
Martin Beck ging zurück zu seinem augenblicklichen Schreibtisch und rief das Staatliche Kriminaltechnische Laboratorium an.
»Ja, also, dein Fahrschein…« sagte Hjelm. »Es sind keinerlei verwendbare Fingerabdrücke zu finden, das Papier ist zu zerknittert.«
»Das habe ich befürchtet«, antwortete Martin Beck.
»Wir sind noch nicht ganz fertig damit. Ich schicke dann den Bericht wie üblich. Ja, wir haben noch ein paar blaue Baumwollfaden gefunden, anscheinend von einem Jackenfutter.«
Martin Beck dachte an die kleine blaue Jacke, die Bosse im Arm gehalten hatte. Er bedankte sich und legte auf. Dann bestellte er einen Wagen und zog sich die Jacke an.
Es war Freitag; die große Flucht aus der Stadt hatte bereits begonnen. Der Verkehrsstrom floß träge über die Brücke, und obwohl der Fahrer gewandt und sicher fuhr, brauchten sie doch fast eine halbe Stunde bis zur Timmermansgatan. Das Haus lag dicht bei der U-Bahn-Station Södra. Es war alt und ziemlich vernachlässigt, der Hausflur dunkel und kühl. Im Erdgeschoß gab es nur zwei Türen. Die
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