Der Mann auf dem Balkon
Eine vage Personenbeschreibung, basierend auf der Zeugenaussage eines dreijährigen Kindes und eines rücksichtslosen Gewaltverbrechers. Ein U-Bahn-Fahrschein. Eine grundsätzliche wissenschaftliche Abhandlung über die Psyche des Menschen, den man jagte. Nichts konkret Greifbares, aber alles sehr beunruhigend.
»Das ist keine Ermittlung, das ist ein Wettraten«, hatte Hammar gesagt, als man über den U-Bahn-Fahrschein sprach.
Wenn dies auch eine seiner Lieblingsphrasen war und Martin Beck sie schon viele Male gehört hatte, war sie doch im Augenblick die treffendste Beschreibung der Situation.
Natürlich bestand die Möglichkeit, bei einer Großrazzia einen Fingerzeig zu bekommen, aber diese Möglickeit war gering. Die letzte Razzia hatte man erst in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag durchgeführt, das Hauptziel jedoch nicht erreicht: Den Parkräuber hatte man nicht gefaßt. Einige dreißig Gesetzesbrecher der verschiedensten Kategorien waren festgenommen worden, vor allem Rauschgiftdealer und Einbrecher. Das hatte der Polizei nur noch mehr Arbeit eingebracht - und nebenbei in der Unterwelt Panik ausgelöst.
Die Razzia in der kommenden Nacht bedeutete, daß viele am wachsten Tag völlig erledigt sein würden. Und morgen würden sie vielleicht…
Aber die Razzia sollte stattfinden, und die Razzia fand statt. Sie begann gegen elf Uhr, und die Neuigkeit verbreitete sich blitzschnell in den wegen Abbruch geräumten Häusern und im Verbrecherviertel Das Ergebnis war nicht sonderlich beeindruckend. Diebe, Hehler Zuhälter, Prostituierte und außerdem die Mehrzahl der Rauschgift-süchtigen verdrückten sich. Stunde auf Stunde verging, und der Einsatz lief mit unverminderter Stärke weiter. Man erwischte einen Einbrecher auf frischer Tat und einen Hehler, der nicht genug Selbsterhaltungstrieb hatte, um sich in Sicherheit zu bringen. Der eigentliche Erfolg war der, daß sie gründlich herumgerührt hatten zwischen den heimatlosen Säufern, den Auf-den-Hund-Gekommenen, den Verzweifelten und Hoffnungslosen, also zwischen denen, die sich noch nicht einmal verkriechen konnten, wenn die Wohlstandsgesellschaft in diesem Menschenschlamm herumstocherte. Man fand ein vierzehnjähriges Schulmädchen nackt in einem Schuppen. Es hatte fünfzig Preludintabletten genommen und war wohl an die zwanzigmal mehr oder weniger vergewaltigt worden. Doch als die Polizei kam, war es allein. Blutig, schmutzig und blaugeschlagen. Es konnte noch sprechen und erzählte ungefähr, was geschehen war und daß das alles nicht weiter schlimm sei. Man konnte nicht einmal seine Kleidung finden und mußte es deshalb in eine alte Decke wickeln. Man fuhr es zu einer von ihr angegebenen Adresse, und eine Person, die sich als ihre Mutter ausgab, sagte, es sei bereits seit drei Tagen verschwunden. Sie weigerte sich, das Mädchen zu stützen. Erst als es auf der Treppe kollabierte, rief man einen Krankenwagen. Andere Fälle waren ähnlich.
Um halb fünf saßen Martin B eck und Kollberg in einem Auto auf der Skeppsbron.
»Irgendwas ist da mit Gunvald«, murmelte Martin Beck.
»Ja, er ist bekloppt«, sagte Kollberg.
»Nein, ich meine was anderes, ich komme nur nicht drauf.«
»Ach so.« Kollberg gähnte.
In diesem Augenblick schallte es aus dem Lautsprecher des Funkgerätes: »Hier ist Hansson vom Fünften. Wir sind in der Västmannagatan. Wir haben hier eine Leiche gefunden. Und…«
»Ja?«
»Die Personenbeschreibung stimmt.«
Sie fuhren hin. Einige Polizeiautos hielten vor einem der Häuser, die abgerissen werden sollten. Der Tote lag auf dem Rücken in einem Zimmer im dritten Stock. Es war verwunderlich, daß er überhaupt dorthin hatte kommen können, denn große Teile der Treppe fehlten. Sie kletterten auf einer Leichtmetalleiter der Polizei hinauf. Der Mann war um die Fünfunddreißig und hatte ein markantes Profil. Er trug ein hellblaues Hemd, dunkelbraune Hosen und verschlissene chwarze Schuhe. Keine Strümpfe. Schütteres, nach hinten gekämmtes Haar. Sie sahen ihn an, irgendwer unterdrückte ein Gähnen.
»Wir können nur absperren und darauf warten, daß die von der Spurensicherung erscheinen«, sagte Kollberg.
»Die werden uns nicht viel Neues sagen«, erklärte Hansson, der schon lange bei der Polizei war. »Erstickt beim Kotzen. Klar wie dicke Tinte.«
»Ja«, sagte Martin Beck. »Sieht so aus. Wie lange, glaubt ihr, ist er schon tot?«
»Nicht sehr lange«, meinte Kollberg.
»Nein«, sagte Hansson, »nicht bei dieser
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