Der Mann auf dem Balkon
eine stand offen und führte auf einen gepflasterten Hof mit Mülltonnen und Teppichklopfstange. Martin Beck hatte Mühe, den Namen Engström auf dem schmutzigen Messingschild an der anderen Tür zu entziffern. Der Knopf der Klingel fehlte, und so klopfte er laut.
Die Frau, die öffnete, mochte in den Fünfzigern sein. Sie war klein und hager und trug ein braunes Wollkleid und geblümte Frotteepantoffeln. Sie blinzelte Martin Beck verwundert durch ihre bemerkenswert dicken Brillengläser hindurch an.
»Frau Engström?«
»Ja«, antwortete sie mit einer Stimme, die für eine so zierliche Frau viel zu gewaltig klang.
»Ist Herr Engström zu Hause?«
»Nein«, dröhnte sie, »was wollen Sie denn von ihm?«
»Ich möchte gern mit ihm sprechen. Ich kenne eines Ihrer Pflegekinder.«
»Welches denn?« fragte sie mißtrauisch.
»Bö Oskarsson. Seine Mutter hat mir Ihre Adresse gegeben. Darf ich hereinkommen?«
Die Frau hielt ihm die Tür auf, und er ging durch einen kleinen Flur, vorbei an der Küchentür und hinein in das einzige Zimmer der Wohnung. Vor dem Fenster sah er die Mülltonnen und die Klopfstange. Eine Schlafcouch, beladen mit bunten Kissen, dominierte in dem dürftig möblierten Raum. Martin Beck sah nichts, was auf ein Kind hindeuten konnte.
»Entschuldigung«, sagte die Frau, »um was handelt es sich? Was ist mit Bosse los?«
»Ich bin Polizeibeamter«, erklärte Martin Beck. »Es handelt sich um eine Routineuntersuchung. Also nichts Aufregendes. Und mit Bosse ist alles in Ordnung.«
Die Frau wirkte anfangs ein wenig verstört, schien dann aber Mut zu fassen.
»Ich rege mich gar nicht auf«, sagte sie, »und vor der Polizei hab ich auch keine Angst. Geht es um Eskil?«
Martin Beck lächelte höflich. »Ja, Frau Engström, eigentlich bin ich hier, um mit Ihrem Mann zu sprechen. Er scheint übrigens vor einigen Tagen Bosse getroffen zu haben.«
»Eskil?« Sie sah Martin Beck bestürzt an.
»Ja. Wissen Sie, wann er nach Hause kommt?«
Die Frau starrte Martin Beck mit wachsender Verwunderung aus runden blauen Augen an, die durch die dicken Brillengläser unnatürlich groß wirkten.
»Aber… aber Eskil ist doch tot«, entgegnete sie schließlich.
Martin Beck starrte zurück. Es dauerte einige Sekunden, bis er sich wieder gefaßt hatte und sagen konnte: »Entschuldigen Sie bitte, das wußte ich nicht. Das tut mir aufrichtig leid. Wann ist er denn gestorben?«
»Am 30. April dieses Jahres. Ein Autounfall. Der Arzt sagt, daß er gleich tot war und nichts mehr gespürt hat.«
Die Frau trat ans Fenster und blickte auf den tristen Hof hinaus. Zu ihrem mageren Rücken hin sagte Martin Beck mitfühlend: »Es tut mir wirklich leid, Frau Engström.«
»Eskil war mit dem Lastwagen auf .dem Weg nach Södertälje«, sagte sie. »Es war an einem Montag.« Sie drehte sich um und fuhr mit fester Stimme fort: »Eskil war zweiunddreißig Jahre lang Lastwagenfahrer, und er ist all die Jahre unfallfrei gefahren. Es war nicht seine Schuld.«
»Ich verstehe«, sagte Martin Beck. »Es tut mir leid, daß ich Sie bemüht habe. Da muß eine Verwechslung vorliegen.«
»Und der Kerl, der ihn anfuhr, wurde fast überhaupt nicht bestraft«, fuhr die Frau fort, »obwohl er das Auto gestohlen hatte.«
»Ich muß jetzt gehen«, erklärte Martin Beck. Er bekam plötzlich Platzangst. Am liebsten hätte er den düsteren Raum mit der traurigen, kleinen Frau sofort verlassen, aber dann nahm er sich zusammen und sagte: »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Frau Engström, würde ich gern ein Foto ihres Mannes sehen - falls Sie eins haben.«
»Ich habe kein Foto von Eskil.«
»Aber seinen Paß haben Sie doch oder seinen Führerschein?«
»Wir sind nie verreist, deshalb hatte Eskil keinen Paß. Und der Führerschein ist alt.«
»Darf ich ihn mir ansehen?« bat Martin Beck.
Sie öffnete eine Schublade und holte einen Führerschein hervor. Er war aus dem Jahre 1953 und für Eskil Johan Albert Engström ausgestellt. Das Foto zeigte einen jungen Mann mit glänzendem, gewelltem Haar, kräftiger Nase und kleinem Mund mit schmalen Lippen.
»Seitdem hatte er sich aber sehr verändert«, sagte die Frau.
»Wie sah er aus? Können Sie ihn beschreiben?«
Sie schien sich über diese Frage nicht zu wundern, sondern antwortete sofort: »Er war nicht so groß wie Sie, aber doch erheblich größer als ich. 1,72 glaube ich. Und ziemlich mager. Er hatte dünnes Haar, schon ein bißchen grau. Ich weiß nicht, was ich sonst noch sagen soll. Er sah
Weitere Kostenlose Bücher