Der Mann auf dem Einhorn
Schultern. »Lange her.«
»Das glaube ich«, antwortete Mythor gelassen. »Die Arbeiten dauern schon eine Weile.«
»Viele Jahre, Fremder!« Ein heiseres Flüstern kam zwischen den schiefen gelben Zähnen Urzuguhrs hervor. Trotz seiner offensichtlich verwirrten Gedanken und seines mehr als merkwürdigen Verhaltens war sein Gesicht schmal, ruhig und, sah Mythor vom ungepflegten Zustand und dem Schmutz ab, in gewisser Weise fast edel zu nennen.
»Und warum helfen dir die Wildländer so bereitwillig?«
Die Wildländer, wenigstens diese hier, verhielten sich für Mythor völlig unverständlich. Ihre Fellmäntel mit den Kapuzen schienen sie tagsüber und ebenso in der Nacht zu tragen, und überdies versteckten sie nicht nur ihre Gesichter jetzt und hier in den Höhlen, sondern auch sich selbst. Wenn sie sich im Licht der Feuer bewegten, blieben sie schattenhafte Gestalten. Mythor versuchte einen Blick der grauen Augen seines Gegenübers zu erhaschen, aber Urzuguhr wich in jeder Hinsicht aus.
»Sie helfen mir. Zuerst waren es wenige. Dann kamen immer mehr. Und jetzt siehst du selbst, dass es viele sind. Sie fragen nicht, sie arbeiten.«
Kein Zweifel. Es gab nicht nur einen Verrückten in den Höhlen. Oder ging es wirklich um Magie? Jedenfalls konnte Mythor bei allem Verständnis keinen Grund für normale Menschen finden, die in der Wildnis als Jäger lebten und sich freiwillig an dem Versuch beteiligten, einen Berg in steinerne Gesichter zu verwandeln.
»Gut. Sie arbeiten. Ich schlafe mich jetzt aus, und morgen arbeiten wir alle weiter an der Gesichtergalerie des Lichtboten.«
»So halten wir es!« bekräftigte Urzuguhr und versetzte einem Wildländer, der einen Meißel mit dem Hammer bearbeitete, einen kräftigen Tritt. »Geh jetzt schlafen! Die Arbeit ist hart, morgen.«
»Ich werde es überleben«, versicherte Mythor und zog sich auf seinen Platz zurück.
Er lag da, hielt die Augen geschlossen und entspannte sich. Die Arme hatte er hinter dem Nacken verschränkt. Die Gedanken und Überlegungen schossen wild durch seinen Kopf. Als er in der Finsternis den Griff des Schwertes berührte und sich der Eigenschaften dieser Waffe erinnerte, zeichnete sich undeutlich seinerseits ein Plan ab. Er wusste, dass die Gesichter, die drohend starrenden Köpfe nicht nur eine Bedeutung, sondern eine genau berechnete Wirkung hatten.
Er musste diese Wirkung aufheben. Und er würde es schaffen. Schon allein deswegen, weil er versuchen musste, den Einfluss des Bösen einzudämmen. Dies galt auch für den Berg der Gesichter.
Der nächste Morgen brachte keine Änderung. Wieder erhielt Mythor zu essen; diesmal gab es saftige Bratenstücke vom am Vortag erlegten Wild. Er fing an, sich nach einem warmen Bad zu sehnen. Aber er legte seine Kleidung an und verließ die Höhle. Er begann, sich die einzelnen Leitern und Gerüste zu merken, und versuchte, sich ein Gesamtbild der verschiedenen Hängegalerien und Rampen aus Holz, die mit Seilen zusammengebunden waren, zu machen. Etwa ein Viertel der Felsflanken war von den Gerüsten überzogen.
Zuerst arbeitete er mit den Wildländern, die jene Grobarbeiten ausführten und mächtige Felsquader aus dem Hang schlugen. Gegen Mittag kam Urzuguhr und holte ihn zu einer anderen Arbeit. Sie kletterten quer über den Felsabsturz, kamen an fertigen und unfertigen Köpfen vorbei und blieben schließlich neben dem Ohr eines riesigen Kopfes mit Hakennase stehen. Mehrere Gerüste in verschiedener Höhe zogen sich um die Stirn, um Nase und Kinn und um den Hals. Ein Dutzend Wildländer arbeiteten mit kleinen Meißeln an dem fast fertigen Bildwerk. Ihre Werkzeuge erzeugten ein fortlaufendes Klingeln und Klirren auf dem Stein. Zwei Männer schlugen dort, wo sich in menschlichen Augen die Pupillen befanden, runde Löcher in die Augen.
»Hier kannst du üben und lernen«, versprach Urzuguhr und kicherte wieder auf seine herausfordernde Weise. »Sie zeigen's dir.«
»Schon gut. Ich werde es versuchen«, antwortete Mythor. Auch heute trug er Alton auf dem Rücken, mit einem Stück Seil sicher verknotet. Der Helm der Gerechten lag auf seinem Lager. Er fürchtete nicht, dass die Wildländer ihn stehlen würden.
Zuerst sah er eine Weile zu, wie die Männer die Hämmer und die Meißel handhabten. Unter den Spitzen der Werkzeuge wurde aus dem hellgrauen, leicht geäderten Stein mit den harten Kanten und den zahlreichen Unregelmäßigkeiten eine runde und glatte Oberfläche. Die Stirn wölbte sich, der Haaransatz
Weitere Kostenlose Bücher