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Der Mann aus dem Safe

Der Mann aus dem Safe

Titel: Der Mann aus dem Safe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Hamilton
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nicht erzählst, was verdammt noch mal damals geschehen ist, dass du so geworden bist. Jetzt sofort.«
    Autos fuhren unter ihrem Fenster vorbei. Leute schlenderten durch den Abend. Normale Leute. Tausende von ihnen um sie herum, die Musik spielten, redeten, lachten. Während ich hier mit einem Notizblock auf ihrem Bett saß.
    Ich möchte es dir erzählen,
schrieb ich.
    »Dann fang an.«
    Ich weiß nicht, wie.
    »Fang damit an, wo es passiert ist. Zeichne mir das Haus.«
    Ich sah sie an.
    »Ich meine es ernst. Du warst acht Jahre alt, oder? Wo hast du gewohnt?«
    Ich dachte darüber nach. Dann legte ich den Block beiseite, stand auf und ging zur Tür.
    Sie biss sich auf die Lippen.
    Ich blieb wartend dort stehen.
    »Was? Was willst du?«
    Ich nahm den Block.
    Komm mit,
schrieb ich.
    »Wo gehen wir hin?«
    Ich zeige dir, wo es passiert ist.
     
    Mittlerweile wurde es dunkel. Die ganze Aktion war Wahnsinn. Heute denke ich, ich hatte kein Recht, sie dorthin zu bringen, aber ich war nun schon so lange auf der Flucht … Ich war todmüde und hatte in den vergangenen Tagen genug gesehen, dass es mir für den Rest meines Lebens reichte. Vielleicht war es letztlich sogar gut, dass ich in dem Moment nicht richtig wusste, was ich da tat.
    Sie stieg hinten auf, wie in alten Zeiten. Es war wie immer ein tolles Gefühl, ihre Arme um mich zu spüren. Wir verließen Ann Arbor und fuhren ostwärts. Ich kannte mein Ziel, hatte es immer gekannt. Auch wenn ich mich seit zehn Jahren nicht mal in die Nähe gewagt hatte.
    Kurz bevor der Highway ins Stadtzentrum führte, fuhr ich ab und kurvte auf einer langsamen Zickzackroute dem Wasser entgegen. Ich wusste, dass wir uns hier nicht mehr verfahren konnten, wir mussten einfach nur immer weiter auf den Detroit River zuhalten.
    Es war schon kurz vor Mitternacht, als wir auf die Jefferson Avenue stießen und ihr in nördlicher Richtung folgten. Wir kamen an dem gewaltigen Stahlwerk am Fluss vorbei, wo all der Qualm und Ruß in der Luft uns mit jedem Meter mehr zu schaffen machte. Amelia klammerte sich fester an mich.
    Ich fuhr weiter. Ich wusste, es war nicht mehr weit. Dann sah ich die Brücke.
    Die Brücke über den River Rouge.
    Ich sah mir die Straßenschilder an. Kurz vor der Brücke nahm ich die letzte Abzweigung nach links. Die letzte Abzweigung vor dem Fluss. Wir waren jetzt in der Victoria Street. Ich hielt an.
    »Hier ist es?«, fragte sie. »Hier hast du wirklich gewohnt?«
    Also, Sie müssen wissen, das hier hat nichts mit der eigentlichen Stadt River Rouge zu tun oder mit ihren Einwohnern, den Geschäften, Straßen, dem Fluss als Ganzem. Sie ist eine Stadt wie jede andere, wo man aufwächst und zur Schule geht und sich in der Welt behauptet. Nur wenn man in diese Gegend, in diese bestimmte Straße kommt, wird man so schockiert sein wie Amelia, als sie vom Motorrad stieg und sich umsah und diese Luft einatmete.
    Sechs Häuser stehen an der Südseite der Victoria Street. An der Nordseite ist die Fabrik, in der Wandfaserplatten hergestellt werden, eine kleine Stadt für sich aus Ziegeln und Stahl, aus Rohren und Schornsteinen und Hochbehältern und riesigen Gipshalden.
    »Riecht es hier immer so?«
    Amelia hielt sich die Hand vor den Mund. Neben dem Gipsstaub war da das Salz von dem Salzwerk ein Stück weiter flussaufwärts und der Koks und die Schlacke von den beiden Eisenhütten. Ganz zu schweigen von dem, was aus dem Klärwerk kam. Oder aus den Gullys, wenn es regnete.
    »In welchem Haus hast du gewohnt?«
    Ich ging die Straße entlang und blieb davor stehen. Sie folgte mir. Es war ein einfacher Bungalow. Im Innern ein kleines Wohnzimmer, eine kleine Küche. Drei Schlafzimmer. Ein Bad. Ein unfertiger Keller. So sah es zumindest in meiner Erinnerung aus. Ich hatte dort von meiner Geburt an bis zu jenem Tag im Juni 1990 gewohnt. Kindergarten, erste Klasse, zweite Klasse. Hatte draußen in dem winzigen Garten gespielt, wenn die Luft nicht allzu schlecht war. Die übrige Zeit immer drinnen.
    Als ich das Haus betrachtete, war ich sicher, dass es leer stand. Es hatte seit zehn Jahren leer gestanden. Niemand wollte es kaufen. Niemand wollte dort wohnen. Ganz abgesehen von der Luft oder der Industriewüste gegenüber. Man wollte keinen Fuß in dieses Haus setzen, wenn man wusste, was dort passiert war.
    Und alle wussten es. Alle.
    Die ganze Straße sah verlassen aus. Ich öffnete eine meiner Gepäcktaschen und holte eine Taschenlampe heraus. Dann nahm ich Amelias Hand und führte sie die

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