Der Mann aus dem Safe
Abendessen, wie ich annahm, und fuhr mit dem Aufzug hinauf. Wieder durch einen Flur bis zu der Zimmernummer, die sie mir genannt hatte. Aus jeder offenstehenden Tür kam Musik. Ich klopfte bei Amelia an, aber niemand machte auf.
Also setzte ich mich dort in den Gang, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Musik drang aus beiden Richtungen auf mich ein, und ich war müde und hungrig und überhaupt nicht mehr sicher, ob das eine gute Idee gewesen war. Vielleicht machte man so etwas einfach nicht. Man taucht nicht einfach nach einem Jahr wieder auf, ohne mit einer saftigen Ohrfeige von ihr zu rechnen. Ich legte meine Arme um die Knie und bettete meinen Kopf darauf.
Die Zeit verging.
»Michael?«
Es war Amelia. Sie sah wunderschön aus. Unglaublich. Umwerfend. Was sonst. Sie hatte lange schwarze Shorts an. Ein schwarzes ärmelloses T-Shirt. Schwarze Arbeitsstiefel. Ihre Haare waren zu einem seitlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, aber ansonsten genauso widerspenstig wie immer.
Ich rappelte mich auf und stand dort vor ihr. Im Gang ihres Studentenwohnheims, nachdem ich sie ein ganzes Jahr lang nicht gesehen hatte. Nachdem ich ohne eine Nachricht abgehauen war.
»Ich möchte dich etwas fragen«, sagte sie schließlich.
Ich machte mich auf alles gefasst.
»Was hast du bloß mit deinen Haaren angestellt?«
Ich saß auf ihrem Bett. Sie an ihrem Schreibtisch. Ich sah zu, wie sie meine Seiten las. Wie sie sich das letzte Jahr meines Lebens erzählen ließ. Angefangen von dem Tag, an dem ich von ihr fortging und Richtung Ostküste fuhr. Wie ich meinen ersten Job erledigte. In New York City landete. Den Horror in diesem Haus in Connecticut. Dann die lange Fahrt nach Westen, nach Kalifornien, und alles, was dort passiert war.
Natürlich hatte ich noch keine Zeit gehabt, die letzten Tage nachzuholen. Was mit Lucy gewesen war. Den Trip nach Cleveland, wo ich drei Morde mit angesehen hatte, bevor ich mich spontan entschloss, hier heraufzukommen und sie zu suchen.
Aber es war auch so genug.
Tränen liefen über Amelias Gesicht, als sie meine Geschichte verfolgte. Seite für Seite. Deshalb bin ich hier, dachte ich. Das ist der eigentliche Grund. Wenn nur ein Mensch auf der Welt versteht, was ich durchgemacht habe. Ein Mensch, der mich wirklich kennt. Mehr verlange ich nicht.
Als sie fertiggelesen hatte, legte sie die Seiten sorgfältig zusammen und tat sie zurück in den Umschlag.
»Das heißt«, sagte sie und wischte sich das Gesicht ab, »dass
mein Vater
dich in all das hineingezogen hat?«
Ich deutete ein Nicken an. Es war nicht ganz so simpel, aber im Prinzip, ja.
»Du bist zum …
Safeknacker
geworden. Deshalb musstest du fort.«
Ja.
»Wirst du jetzt damit aufhören?«
Ich hatte keine Antwort.
»Warum hast du dich überhaupt darauf eingelassen?«
Deinetwegen, dachte ich. Aber das will ich dir nicht sagen.
»Weißt du«, sagte sie und beugte sich nah zu mir, »wie du manche dieser Szenen gezeichnet hast … als würdest du richtig darin aufgehen.«
Ich wich ihrem Blick aus. Sah zum Fenster hinaus in die Abenddämmerung. Was für ein langer Tag das gewesen war.
»Michael. Sieh mich an.«
Ich tat es. Sie gab mir einen Schreibblock und einen Stift.
»Warum hast du damit weitergemacht?«
Ich schrieb:
Ich hatte keine andere Wahl.
»Aber … die hattest du. Von Anfang an.«
Nein.
Ich unterstrich das Wort.
»Da steckt mehr dahinter …«
Ich schluckte schwer. Schloss die Augen.
»Es geht darum, was mit dir passiert ist, stimmt’s? Damals als Kind.«
Diese Schlussfolgerung überraschte mich nicht. Wenn jemand sie ziehen konnte, dann sie.
»Ich habe dir alles von mir erzählt«, sagte sie. »Wie meine Mutter sich umgebracht hat. Was ich im letzten Sommer durchgemacht habe. Alles.«
Ich schüttelte den Kopf. Diese Sache … deshalb war ich nicht hier.
»Du hast mal gesagt, wir hätten viel gemeinsam, weißt du noch? Wie soll ich das beurteilen? Du hast mir immer noch nichts erzählt.«
Ich zeigte auf die Blätter in ihrer Hand. Da steht doch alles.
Sie ließ sich nicht darauf ein.
»Was ist mit dir passiert?«, fragte sie. »Wirst du je darüber reden?«
Ich reagierte nicht.
Sie atmete tief durch, nahm meine Hand und ließ sie gleich wieder los.
»Ich weiß nicht, warum ich so für dich empfinde, okay? Ich versuche, es mir auszureden, weil es … weil es total verrückt ist, aber … Aber ich schwöre bei Gott, ich werfe dich aus meinem Zimmer, und du siehst mich nie wieder, wenn du mir
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