Der Mann aus dem Safe
Kopfschmerzen vor sich hin.
»Dann wollen wir’s mal nicht übertreiben am ersten Tag, was?« Er ging zwischen den Zeichentischen herum und riss Bögen von Zeichenpapier von einem dicken Block ab. Als er zu mir kam, riss er das Blatt so nachlässig ab, dass ich nur etwa achtzig Prozent bekam und die eine Ecke noch am Block hing. »Zeichnet einfach irgendetwas heute. Ist mir egal, was.«
Er ging an mir vorbei, ohne mich ein zweites Mal anzusehen, ohne stehen zu bleiben und mich herauszustellen wie die meisten anderen Lehrer. Das sprach also schon mal für ihn. Wenn ich Glück hatte, würde das die eine Unterrichtsstunde sein, in der ich endlich mal mit der Tapete verschmelzen konnte.
Er ging zurück zu seinem Pult und legte den Kopf in den Nacken. »Ich könnte jetzt einen Mord begehen für eine Zigarette«, sagte er mit geschlossenen Augen.
Auf jedem Tisch stand ein kleiner Korb mit Mal- und Zeichenmitteln. In meinem lagen ein paar zerbrochene Kohlestücke und ein paar Bleistifte. Ich nahm einen Bleistift und starrte auf das leere Blatt Papier. Drei rechte Winkel um ein Nichts und ein ausgefranster Rand.
»Sie müssen uns ein Thema stellen«, sagte ein Mädchen in der ersten Reihe, das offenbar autorisiert war, für uns alle zu sprechen. »Wir wissen nicht, was wir zeichnen sollen.«
»Das spielt keine Rolle«, sagte Mr. Martie. »Zeichnet eine Landschaft.«
»Eine Landschaft?«
Mr. Martie sah das Mädchen an. In seinem Gesicht stand sein ganzer Frust darüber geschrieben, dass sein jahrelanges Kunststudium ihn hierhergeführt hatte, in dieses Schulzimmer an diesem Januarmorgen, an dem die Fenster noch dunkel waren und die Sonne erst in einer halben Stunde aufgehen würde. »Ja«, sagte er. »Eine Landschaft. Einen Ort, verstehst du? Zeichnet einen Ort, euren absoluten Lieblingsort.«
»In meiner letzten Schule hat der Kunstlehrer uns immer etwas Bestimmtes zum Zeichnen gegeben. Etwas, das wir direkt vor uns sehen konnten. Wir haben nie aus dem Gedächtnis gezeichnet.«
Er stieß einen Seufzer aus, stand auf und ging zu einem Schrank, aus dem er die ersten beiden Gegenstände nahm, die ihm in die Hände fielen. Einen grauen Zylinder, etwa dreißig Zentimeter hoch, und einen grauen Keil, ungefähr genauso hoch. Damit ging er zu dem freien Tisch ganz vorn und stellte sie nebeneinander.
»Für die von euch, die ein Stillleben zeichnen wollen …« Er setzte sich und schloss wieder die Augen. »Die anderen können machen, was sie wollen.«
Das Mädchen in der ersten Reihe hob erneut die Hand, aber er würde den Fehler, sie zu beachten, nicht noch einmal begehen. Schließlich gab sie es auf und begann zu zeichnen, widmete sich vermutlich der Herausforderung, dem Zylinder neben dem Keil gerecht zu werden.
Derweil hatte der Junge neben mir schon angefangen, ein Haus zu zeichnen. Es bestand aus einem Rechteck mit kleineren Rechtecken darin, Fenster und Türen. Dann setzte er einen Schornstein obendrauf, aus dem sich eine Rauchfahne kräuselte.
Ich nahm meinen Bleistift und überlegte. Natürlich konnte ich es mit diesem faszinierenden Stillleben dort vorn versuchen. Aber nein, ich begann die Eisenbahnbrücke im Ortszentrum zu zeichnen. Ich stellte mir vor, dass ich auf der anderen Seite stand, der entgegengesetzten vom Spirituosenladen. Von dort aus würde ich das Restaurant mit seiner großen Leuchtschrift sehen, THE FLAME in Blockbuchstaben und 24 HOURS kleiner darunter. Immer mehr Einzelheiten fielen mir ein, je genauer ich mir die Ecke vorstellte. Die blinkenden Warnlichter an der Überführung und wie die Tür des Schnapsladens durch den Brückenbogen gerade noch zu sehen war. Das Eisengitter vorm Schaufenster.
Das verdiente bestimmt nicht die Bezeichnung absoluter Lieblingsort, wie mein guter Lehrer vorgeschlagen hatte, aber er war mir eben sehr vertraut. Dort fühlte ich mich noch am ehesten zu Hause, an dieser Straßenkurve mit dem heruntergekommenen Schnapsladen auf der anderen Seite einer heruntergekommenen Eisenbahnbrücke. Ich begann die dunkleren Bereiche zu schraffieren, deutete an, wo die Brücke einen Schatten auf den Eingang zum Restaurant warf. Die Zeitungskästen, die davor aufgereiht waren. Jetzt fehlte noch ein bisschen Müll, ein paar weggeworfene Dosen und Flaschen, die auf dem Parkplatz herumkullerten. Es fehlten Schmutz und Staub und Pfützen und Armseligkeit. Ich glaubte, niemals alles erfassen zu können, und wenn ich den ganzen Tag hier saß und jeden Stift in dem Körbchen
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