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Der Mann aus dem Safe

Der Mann aus dem Safe

Titel: Der Mann aus dem Safe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Hamilton
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verbrauchte.
    In meiner Versunkenheit, ganz mit meinem Bild beschäftigt, merkte ich nicht, was um mich herum vorging … Mr. Martie war aufgestanden. Er hatte die Klasse darum gebeten, keine Untaten zu begehen, während er mal kurz rausging, doch das registrierte ich erst später, nachdem er auf dem Weg zur Tür an mir vorbeigegangen und noch einmal zurückgekommen war. Er blickte mir über die Schulter, während ich damit rang, meine Zeichnung dem Bild in meinem Kopf anzugleichen. Es dauerte einen Moment, bis ich gewahr wurde, dass er hinter mir stand.
    Er sagte nichts. Er legte mir eine Hand auf die Schulter und schob mich sachte beiseite, damit er die Zeichnung besser sehen konnte.
    So begann das einzig gute und anständige Kapitel meines Lebens.
     
    Zweieinhalb Jahre dauerte es. Ist schon merkwürdig, wie unser Leben sich durch so eine Sache verändern kann. Ein Talent, von dem man vorher nicht einmal etwas wusste.
    Am Ende der Woche war mein Stundenplan umgestellt worden. Statt dieses Unterstufenkurses in der ersten Stunde hatte ich jetzt eine Doppelstunde »Freies künstlerisches Arbeiten für Fortgeschrittene« am Nachmittag, gleich nach der Mittagspause. Das wurde zu einer Oase im Tagesablauf für mich, die einzige Gelegenheit, mal Luft zu holen.
    Ich fand sogar einen Freund. Ja, einen richtigen, lebendigen, menschlichen Freund. Er hieß Griffin King und war einer der zwölf Schüler in diesem Kunst-Leistungskurs. Ich war der einzige aus dem ersten Highschool-Jahrgang darin und er der einzige aus dem zweiten. Er hatte lange Haare und gab sich, als würde er sich für nichts auf der Welt besonders interessieren, außer irgendwann Künstler zu werden. Das war schon ein kühner Gedanke in Milford, Michigan, damals, glauben Sie mir. An meinem zweiten Tag im Kunstkurs kam er herüber und setzte sich neben mich. Musterte die Zeichnung, an der ich gerade arbeitete. Es war einer meiner ersten Porträtversuche. Mein Onkel Lito. Griffin sah zu, wie ich mich damit abmühte, bis ich schließlich aufhörte.
    »Nicht schlecht«, sagte er. »Hast du so was schon oft gemacht?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Wer ist das Modell? Hat er dir dafür gesessen?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Wie, du zeichnest das aus dem Gedächtnis?«
    Ich nickte.
    »Ist ja abgefahren, Mann.«
    Er beugte sich darüber, um es sich genauer anzusehen.
    »Allerdings ist es noch ein bisschen flach«, bemerkte er. »Du brauchst noch mehr Schattierung, um die Gesichtszüge richtig herauszubringen.«
    Ich sah ihn an.
    »Ich meine ja nur. Klar weiß ich, dass es nicht einfach ist.«
    Ich legte meinen Bleistift ab.
    »Wie läuft’s denn überhaupt so für dich in der Schule?«
    Ich sah ihn wieder an und hob beide Hände, wie um zu sagen, hast du denn noch nichts von mir gehört?
    »Ich weiß, dass du nicht sprechen kannst«, sagte er. »Das finde ich übrigens total cool.«
    Wie bitte?
    »Ich mein’s ernst. Ich zum Beispiel rede viel zu viel und wünschte manchmal, ich könnte … einfach aufhören. So wie du.«
    Ich schüttelte den Kopf und sah zur Wanduhr hinauf, um festzustellen, wie lange wir noch bis zum Ende der Stunde hatten.
    »Ich bin übrigens Griffin.« Er gab mir die Hand, und ich schüttelte sie.
    »Wie sagt man eigentlich ›hallo‹?«
    Ich sah ihn fragend an.
    »Ich meine, du kannst doch bestimmt Gebärdensprache, oder? Wie geht ›hallo‹?«
    Ich hob langsam die rechte Hand und winkte einmal.
    »Ah, okay, das leuchtet ein.«
    Ich nahm meine Hand runter.
    »Wie sagt man: ›Ich hasse diese Stadt wie die Pest, von mir aus könnten sie alle verrecken‹?«
    Wie Sie wissen, war ich nie besonders gut in Gebärdensprache gewesen, aber nach und nach fiel mir fast alles wieder ein, als ich ihm jeden Tag ein paar Zeichen beibrachte. Mit der Zeit hatte er ein paar Lieblingsgebärden, die er mir draußen im Flur zuwarf, als wäre das unsere Geheimsprache. Den Daumen umfassen und damit wackeln für »unfähig«. Zweimal die Nase drehen für »langweilig«. Wenn ein bestimmtes Mädchen vorbeikam, die Hand mit Schwung vom Mund weggeführt für »scharf«. Oder beide Hände, seine eigene Erfindung, was wohl »doppelt scharf« heißen sollte.
    Wir aßen jeden Tag zusammen zu Mittag, und dann gingen wir in unseren Kunstkurs. Mein Freund und ich. Sie müssen sich mal vorstellen, was das für mich bedeutete. So etwas hatte ich noch nie gehabt. Das Zusammensein mit Griffin plus meine künstlerischen Versuche – Wahnsinn, es war fast, als würde ich

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