Der Mann aus dem Safe
verlieh mir der Gedanke genug Energie, dass ich auch die letzte Stunde durchhielt. Ich rollte die letzte Schubkarre zum Wald und rollte sie wieder zurück zum Loch, das jetzt tatsächlich nach einem richtigen Loch aussah nach acht Stunden Arbeit. Dann legte ich den Spaten in die Karre und ging ums Haus herum zur Einfahrt. Dort sah ich zum ersten Mal Zekes Auto. Es war ein kirschrotes BMW -Cabrio. Das Verdeck war heruntergelassen, so dass ich die schwarzen Ledersitze und den Schaltknüppel sah, der in der Sonne glänzte. Ein paar Meter weiter stand der alte zweifarbige Grand Marquis mit den rostigen Kanten.
Als ich nach Hause kam, ging ich nicht in den Schnapsladen. Ich wollte nicht, dass Onkel Lito mich sah und wieder damit drohte, den Richter anzurufen. Ich ging gleich ins Haus und duschte. Aß etwas. Dann setzte ich mich hin, um zu zeichnen.
Am Abend zuvor war ich kläglich gescheitert. Amelias Gesicht auf ein Blatt Papier bringen – das schien ein Ding der Unmöglichkeit zu sein.
Du hast dich zu sehr verkrampft, sagte ich mir. Du hast sie zur Mona Lisa gemacht. Zeichne sie einfach, wie du alle anderen zeichnest, und nicht wie jemand, bei dessen Anblick dir regelmäßig schwindelig wird.
Um Mitternacht war ich immer noch dabei. Ich war furchtbar müde, fühlte mich aber inzwischen nahe dran. Vielleicht brauchte ich genau das – so fix und fertig zu sein, dass ich kaum noch klar sehen konnte. Ganz die Intuition übernehmen zu lassen. Beweg einfach den Stift übers Papier und lass es fließen.
Auf der Zeichnung stand sie am Rand der Grube. Sie trug ihre abgeschnittene Jeans und die schwarzen Turnschuhe und das schwarze T-Shirt mit dem Maschinengewehr darauf. Die Haare wild zerzaust. Einen Arm quer vor sich, mit dem sie den anderen am Ellbogen fasste. Eine ambivalente Körpersprache. Der Blick halb gesenkt. Auf mich gerichtet, aber nicht fokussiert.
Ja, das war besser. Jetzt hatte ich sie einigermaßen getroffen. Noch wichtiger, ich hatte getroffen, was ich für sie
empfand.
Wie ich sie mit meinem inneren Auge sah. Es war fast annehmbar.
Nun musste ich mir nur noch überlegen, wie ich ihr das Blatt zukommen lassen sollte. Konnte ich es aufrollen und irgendwie in die Hose stecken? Vielleicht in einen großen Umschlag stecken, damit es nicht geknickt wurde? Egal wie, ich musste es bei mir haben, damit ich es ihr sofort geben konnte, sobald sich die Gelegenheit bot.
Genau, so wird’s gehen. Wenn du Geduld hast, wird sich die Gelegenheit bieten. Und jetzt schlepp dein Wrack von einem Körper ins Bett und schlaf, damit du morgen wieder fit bist.
Als ich am nächsten Morgen aufstand, war ich genauso zerschlagen wie am Tag zuvor, aber wenigstens nicht schlimmer. Ich frühstückte, dann fuhr ich zum Haus der Marshs. Die Idee mit der Zeichnung war mir in der Nacht so genial vorgekommen, aber jetzt, bei Tageslicht, fragte ich mich, ob es nicht doch ein großer Fehler war. Andererseits, pfeif drauf. Was hatte ich schon zu verlieren?
Ich kam pünktlich an. Die Zeichnung steckte in einem braunen Umschlag unter meinem Shirt, flach am Rücken. Ich wollte sie bei meiner ersten Tour mit der Schubkarre herausnehmen und im Wald verstecken. Sie vorläufig dort liegen lassen, damit sie nicht von meinem Schweiß verdorben wurde. Dann, wenn Amelia irgendwann im Laufe des Nachmittags vorbeikam, konnte ich sie holen. Ich hoffte nur inständig, dass sie sie auch annehmen würde. Dass sie den Umschlag öffnen und sie sich ansehen würde. Das war wohl nicht zu viel verlangt.
Mr. Marsh wartete schon auf mich. Er hatte den Schlosser bei sich. Nicht schon wieder, dachte ich. Das kann ich heute wirklich nicht gebrauchen.
»Mr. Randolph kennst du ja bereits«, sagte Mr. Marsh zu mir.
Ich nickte. Der Schlosser lächelte heute so wissend, als hätte er ein Geschenk für mich und könnte es nicht erwarten, dass ich es auspackte.
»Komm mit nach hinten«, sagte Mr. Marsh. »Wenn es dir nichts ausmacht.«
Ich hatte nicht den Eindruck, mich frei entscheiden zu können, also folgte ich ihnen. Der Werkzeugkasten des Schlossers stand neben der Gartentür. Das alte Schloss war auseinandergenommen worden und lag in Einzelteilen auf dem Boden. Ein glänzendes neues Schloss war schon eingebaut und wartete auf mich.
»Das Werkzeug, bitte schön«, sagte Mr. Marsh.
Der Schlosser holte dieselbe Mappe wie am Vortag heraus und klatschte sie mir in die Hand.
»Wie stehst du zu gezackten Stiften, Junge?«
Gezackte Stifte? Davon hörte ich
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