Der Mann aus London
verließ als erste den Zollraum und ging auf ein Erster-Klasse-Abteil zu. Ein älterer Mann, gefolgt von zwei Gepäckträgern, ließ sich in einem Schlafwagenabteil nieder. Immer wieder kamen hier prominente Reisende an, vor allem mit dem Nachtschiff, und Maloin hatte aus seiner Kabine heraus schon Minister, Abgeordnete des Völkerbundes, Schauspieler und Filmstars gesehen. Manchmal wurden sie am Kai sogar von Fotografen erwartet.
Der Mann mit dem Köfferchen rührte sich nicht von der Stelle. Er sah eher nach einem Engländer als nach einem Franzosen aus, aber das konnte man nicht mit Sicherheit sagen. Endlich verließ ein Reisender in beigem Regenmantel den Zoll. Er war groß und hager und ging direkt auf den Wartenden zu. Alles war ganz einfach. Die beiden machten gemeinsame Sache. Der Mann aus London hatte seinem Komplizen den Koffer zugeworfen, und jetzt gaben sie einander die Hand.
Ob sie noch in den Zug stiegen? Maloin bezweifelte es, als er sie die Straße überqueren und ins Moulin-Rouge eintreten sah, von wo aus ein paar Musikfetzen zu ihm herüberdrangen.
Der Stationsvorsteher pfiff zur Abfahrt, und in der Kabine ertönte das Läutwerk. Maloin betätigte den zweiten Hebel, und kurz darauf fuhr der Zug zum anderen Bahnhof ab, dem richtigen, von dem aus die Abfahrt nach Paris erfolgte.
Im Bahnhofsgebäude ging das Licht wieder aus, und die Türen wurden geschlossen. Die Zollbeamten gingen zusammen weg; zwei von ihnen betraten das Café Suisse. Auch an Bord des Schiffes wurden die Lichter eines nach dem anderen gelöscht, außer am Heck, wo ein Kran geräuschvoll Kisten aus dem Laderaum hievte.
Es war jede Nacht das gleiche. Zwei bis drei Stunden lang war jetzt das Quietschen des Krans zu hören, und man sah den Kegel des grellen Scheinwerferlichtes auf die weit geöffnete Ladeluke gerichtet.
Maloin konzentrierte seine Aufmerksamkeit unbewußt auf das Moulin-Rouge und seine bunten Fenster, hinter denen die Schatten tanzender Paare vorbeiglitten.
»Vielleicht, daß Camélia mit einem der beiden fortgeht«, überlegte er.
Ab und zu passierte es, daß Camélia das Lokal in Begleitung eines Gastes verließ. Sie bog dann mit ihm um die nächste Straßenecke, und einen Augenblick später hörte man das Klingelzeichen eines kleinen Hotels. Aus schierer Neugier war Maloin wie die anderen mit ihr dort hingegangen. Sie war ein gutmütiges Ding, immer guter Laune, und sie versäumte es nie, ihm guten Tag zu sagen, wenn er vorüberkam.
»Nein! Sie kommen ohne sie raus«, murmelte er jetzt vor sich hin.
Er führte oft Selbstgespräche in seiner Kabine, und das war dann beinahe so, als ob er Gesellschaft hätte.
»Wetten, daß sie halbe-halbe machen?« fügte er hinzu.
Die beiden Männer entfernten sich nicht in Richtung Stadt, sondern überquerten die Straße, gingen über die Gleise und steuerten auf den dunkelsten und abgelegensten Punkt am Rand des Hafenbeckens zu. Maloin lächelte. An ihn dachte keiner. Niemand stellte sich vor, daß da oben in dem Glaskasten mit dem rötlichen Licht ein Mann war, der bei allem zuschaute! Liebespaare noch weniger als andere, und Maloin hatte einige amüsante Erinnerungen.
Er wandte sich eine Sekunde lang ab, um einen Schluck aus seiner Kaffeetasse zu nehmen. Dadurch entgingen ihm vielleicht ein oder zwei Bewegungen der beiden Unbekannten, aber nicht mehr. Als er wieder zu ihnen hinsah, versetzte der große Hagere seinem Begleiter unvermittelt und mit erstaunlicher Raschheit einen Hieb ins Gesicht.
Er schlug mit der rechten Hand zu; den Koffer behielt er fest in der Linken. Seine Faust hob sich kaum ab vom Dunkel, möglicherweise war er mit einem Totschläger bewaffnet. Der Kran quietschte weiter.
Maloin hatte das Gesicht gegen die Scheibe gepreßt. Er sah, wie der Verletzte am äußersten Rand des Beckens ins Taumeln geriet. Es konnte gar nicht ausbleiben, daß er ins Wasser fiel, und der Hagere wußte das. Er hatte seinen Schlag dementsprechend kalkuliert. Was er jedoch bestimmt nicht mit eingerechnet hatte, war die Reaktion seines Partners, der sich, wahrscheinlich rein instinktiv, mit seinem ganzen Gewicht an das Köfferchen klammerte und es im Fallen mitriß.
Es gab einen dumpfen Aufschlag auf dem Wasser, und gleich hinterher einen zweiten, leiseren. Der Mann war zuerst auf das Wasser aufgeschlagen. Der Koffer kam hinterher. Der große Hagere hatte einmal kurz nach allen Seiten geblickt und beugte sich jetzt über das Wasser.
Viel später erst stellte Maloin sich
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