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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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England gewährt den Anarchisten politisches Asyl, und das erbost den Zaren. Wenn nun einer seiner Fürsten in England von einem unserer Kameraden ermordet wird, könnte der Zar so wütend werden, daß er die ganze Verhandlung abbricht.«
    Jewno pflichtete ihm bei: »Das wäre eine Sensation! Wir könnten behaupten, Orlow sei wegen Verrats am russischen Volk von einem unserer Leute ermordet worden.«
    »Den Bericht würde jede Zeitung der Welt bringen«, rief Ulrich aus. »Bedenkt die Wirkung, die es zu Hause haben würde. Ihr wißt, was die russischen Bauern von der Einberufung halten – für sie ist das ein Todesurteil. Sie halten eine Begräbniszeremonie ab, wenn ein Junge in die Armee eingezogen wird. Wenn sie erfahren, daß der Zar sie in einem großen europäischen Krieg als Kanonenfutter einsetzen will, werden sich die Flüsse von Blut rot färben …«
    Er hat recht, sagte sich Felix. Jewno redet zwar immer so, aber dieses Mal hat er recht.
    »Ich glaube, du hängst einem Wunschtraum nach, Jewno«, sagte Ulrich, »Orlow ist auf geheimer Mission -und er wird nicht in einem offenen Wagen durch London fahren und der Menge zuwinken. Außerdem kenne ich unsere Londoner Kameraden – sie haben noch nie jemanden ermordet. Ich wüßte nicht, wie sich das verwirklichen ließe.«
    »Aber ich«, sagte Felix. Alle blickten ihn an. Die Schatten auf ihren Gesichtern bewegten sich im flackernden Kerzenlicht. »Ich weiß, wie wir es verwirklichen können.«
    Er erkannte seine eigene Stimme nicht, es war ihm, als habe sich seine Kehle zugeschnürt. »Ich werde nach London gehen. Ich werde Orlow töten.«
    Plötzlich war es still im Zimmer, als ob sich das Gerede von Tod und Zerstörung mit einem Male konkretisiert hätte. Sie starrten ihn überrascht an, alle, außer Ulrich, der still vor sich hin lächelte, als habe er die ganze Zeit vorausgesehen, daß es so ausgehen würde.

2
    L ondon war unglaublich reich. Felix hatte extravaganten Reichtum in Rußland und viel Wohlstand auf dem westeuropäischen Kontinent gesehen, aber nichts dergleichen. Hier lief niemand in Lumpen herum. Ja, sogar bei diesem warmen Wetter trug jeder mehrere Schichten dicker Kleidung. Felix sah Fuhrleute, Straßenverkäufer, Straßenfeger, Arbeiter, Lieferjungen -und alle trugen feine, fast fabrikneue Mäntel ohne Löcher oder Flicken. Alle Kinder besaßen Stiefel, jede Frau hatte einen Hut, und was für einen! Meist waren es riesige Modelle, so breit wie die Räder eines Hundewagens und geschmückt mit Bändern und Schleifen, Federn, Blumen und Früchten. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen. In den ersten fünf Minuten sah er mehr Autos, als er in seinem ganzen bisherigen Leben gesehen hatte. Es schien ebenso viele Autos wie Pferdewagen zu geben. Ob auf Rädern oder zu Fuß, alles war in Eile.
    Auf dem Piccadilly Circus standen alle Fuhrwerke still, und der Grund war der gleiche wie in jeder anderen Stadt: Ein Pferd war gestürzt, der Wagen umgekippt. Zahlreiche Männer bemühten sich, das Tier und den Wagen wieder aufzurichten, während Blumenmädchen und geschminkte Damen ihnen vom Gehsteig aus Ermutigungen und Spaßworte zuriefen.
    Weiter im Osten der Stadt verschwand dieser Eindruck großen Wohlstands allmählich. Er kam an einer Kathedrale mit Kuppeldach vorbei, die nach dem Stadtplan, den er sich auf der Victoria Station gekauft hatte, St. Paul hieß. Danach gelangte er in ärmere Viertel. Plötzlich sah er anstelle der prunkvollen Banken und Bürogebäude niedrige kleine Reihenhäuser, die zum Teil recht baufällig waren. Hier gab es weniger Autos und mehr Pferde, und die Pferde waren magerer. Die meisten Läden bestanden aus Straßenständen. Lieferjungen brauchte man hier nicht. Und jetzt fielen ihm auch die vielen barfüßigen Kinder auf – ohne allerdings sein Mitleid zu erregen, denn er fand, daß sie in diesem Klima keine Schuhe brauchten.
    Schlimmer wurde es, als er weiter in das East End vordrang: verwahrloste Mietskasernen, dunkle Hinterhöfe, stinkende Hauseingänge, in denen verlumpte menschliche Wracks in Abfallkübeln herumstöberten und nach Nahrung suchten. Dann kam Felix in die Whitechapel High Street und sah die ihm wohlbekannten orthodoxen Juden mit ihren langen Barten, Schläfenlocken und schwarzen Kaftanen, und kleine Läden, in denen geräucherter Fisch und koscheres Fleisch verkauft wurde. Es war wie im russischen Ghetto, nur sahen die Juden hier nicht verängstigt aus.
    Er bahnte sich einen Weg zur Jubilee Street

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