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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Nr. 165, der Adresse, die Ulrich ihm gegeben hatte. Es war ein zweistöckiges Gebäude, das wie eine lutherische Kapelle aussah. Einem Schild an der Fassade entnahm er, daß der Workers Friend Club and Institute für die arbeitenden Menschen aller politischen Meinungen bestimmt sei, aber eine weitere Notiz verriet den eigentlichen Charakter des Hauses, denn sie besagte, daß der Club im Jahre 1906 von Peter Kropotkin gegründet worden sei. Felix fragte sich, ob er hier in London dem legendären Kropotkin begegnen werde.
    Er trat ein. Im Vestibül lag ein Stapel Zeitungen: Der Arbeiterfreund, auf jiddisch: Der Arbeterfraint. Bekanntmachungen an den Wänden wiesen auf Englischkurse, eine Sonntagsschule, einen Ausflug nach Epping Forest und einen Vortrag über Hamlet hin. Felix ging in die Halle. Die Architektur bestätigte seinen ersten Eindruck. Dieser Raum mußte einmal das Schiff einer nonkonformistischen Kirche gewesen sein. Jetzt hatte man ihm allerdings eine Bühne am einen Ende und eine Bar am anderen hinzugefügt. Auf der Bühne befanden sich ein paar Männer und Frauen, die anscheinend damit beschäftigt waren, ein Stück zu proben. Vielleicht sind das die Aktivitäten der Anarchisten in England, dachte er. Das würde auch erklären, warum sie ihre Clubs haben durften. Er begab sich an die Bar. Keine Spur eines alkoholischen Getränks, aber auf der Theke sah er Gefillte Fisch, eingelegte Heringe und – o Freude – einen Samowar. Das Mädchen hinter der Theke blickte ihn an und sagte: »Nun?« Felix lächelte.

    Eine Woche später, an dem Tag, an dem Fürst Orlow in London eintreffen sollte, nahm Felix seinen Lunch in einem französischen Restaurant in Soho ein. Er kam frühzeitig an und nahm sich einen Tisch in der Nähe der Tür. Er bestellte Zwiebelsuppe, ein Filetsteak, Ziegenkäse und dazu eine halbe Flasche Rotwein. Er sprach Französisch. Die Kellner waren sehr höflich. Als er mit dem Essen fertig war, herrschte Vollbetrieb, denn es war die Stoßzeit für das Mittagessen. Er wartete, bis drei der Kellner in der Küche waren und die anderen beiden ihm den Rücken zuwandten, dann stand er ruhig auf, ging zur Tür, nahm Hut und Mantel und verschwand, ohne bezahlt zu haben.
    Er lächelte, als er die Straße hinunterging. Solche Tricks machten ihm Spaß.
    Er hatte rasch gelernt, fast ohne Geld in dieser Stadt zu leben. Zum Frühstück kaufte er sich süßen Tee und eine Scheibe Brot für zwei Pence bei einem Straßenhändler, aber das war die einzige Nahrung, für die er bezahlte. Das Mittagessen stahl er sich an Obst-und Gemüseständen zusammen. Abends ging er in eine Wohltätigkeitsküche, wo er einen Teller Suppe und unbeschränkte Mengen Brot bekam, wofür er sich lediglich eine unverständliche Predigt anhören und dann einen Choral mitsingen mußte. Er hatte fünf Pfund in bar, aber die waren nur für den Notfall.
    Er wohnte in den Dunstan Houses in Stepney Green, einer fünfstöckigen Mietskaserne, in der etwa die Hälfte der führenden Anarchisten Londons lebte. Er hatte eine Matratze auf dem Fußboden der Wohnung eines gewissen Rudolf Rocker, eines charismatischen blonden Deutschen, der die Zeitung Der Arbeterfraint herausgab. Auf Felix wirkte Rockers Charisma nicht, aber er schätzte den jungen Mann wegen seines totalen Engagements. Rocker und seine Frau Milly hatten ein offenes Haus für Anarchisten. Den ganzen Tag, oft auch die halbe Nacht hindurch, trafen Besucher und Kuriere ein, fanden Debatten und Komiteesitzungen statt, wurde endlos Zigaretten geraucht und Tee getrunken. Felix zahlte keine Miete, steuerte aber jeden Tag etwas zum Haushalt bei -ein Pfund Wurst, ein Paket Tee, ein paar Orangen –, das war sein Beitrag zur Gemeinschaft. Sie glaubten, er kaufe diese Dinge, aber natürlich hatte er sie gestohlen.
    Den anderen Anarchisten erzählte er, er sei hier, um die Bibliothek des Britischen Museums zu besuchen und sein Buch über die natürliche Anarchie der primitiven Gesellschaften zu beenden. Sie glaubten ihm. Sie waren freundlich, emsig und harmlos. Sie glaubten fest an eine Revolution durch Erziehung und Gewerkschaftsgeist, durch Flugschriften, Vorträge und Ausflüge nach Epping Forest. Felix wußte, daß die meisten Anarchisten außerhalb Rußlands so waren. Er haßte sie nicht gerade, aber insgeheim verachtete er sie, denn eigentlich waren sie nur Feiglinge.
    Allerdings gab es auch in solchen Gruppen einige zu Gewalttaten aufgelegte Männer. An die würde er sich halten, wenn er

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