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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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sie brauchte.
    Inzwischen machte er sich Gedanken, ob Orlow überhaupt kommen würde und wie er es anstellen sollte, ihn umzubringen. Er wußte, daß derartiges Grübeln nutzlos war, und versuchte, sich abzulenken, indem er Englisch lernte. In der kosmopolitischen Schweiz hatte er bereits ein wenig gelernt. Während der langen Reise durch Europa hatte er ein Schulbuch der englischen Sprache für russische Kinder ausgiebig durchstudiert und eine englische Übersetzung seines Lieblingsromans »Die Hauptmannstochter« von Puschkin gelesen, den er im Urtext fast Wort für Wort kannte. Jetzt las er jeden Morgen die Times im Lesezimmer des Clubs in der Jubilee Street, und am Nachmittag wanderte er durch die Straßen, unterhielt sich mit Betrunkenen, Landstreichern und Huren – den Leuten, die er am liebsten mochte, weil sie sich über alle Gesellschaftsregeln hinwegsetzten. Bald vermischten sich die gedruckten Worte in den Büchern mit den Klängen um ihn herum, und er konnte bereits alles sagen, was er brauchte. Nicht mehr lange, und er würde sich auf englisch über Politik unterhalten können.
    Nachdem er das Restaurant verlassen hatte, ging er in nördlicher Richtung, überquerte die Oxford Street und kam in das deutsche Viertel westlich der Tottenham Court Road. Unter den Deutschen gab es eine Menge Revolutionäre, aber sie waren meist Kommunisten und keine Anarchisten. Felix bewunderte die Disziplin der Kommunisten, fand jedoch ihr autoritäres Verhalten reichlich verdächtig; er selbst hielt sich wegen seines Temperaments für die Parteiarbeit für ungeeignet.
    Er ging durch den Regent’s Park und gelangte in ein kleinbürgerliches Vorstadtviertel. Dort wanderte er durch die mit Bäumen bepflanzten Straßen, blickte in die kleinen Gärten der sauberen Villen, suchte nach einem Fahrrad, das er stehlen konnte. Er hatte in der Schweiz Radfahren gelernt und dabei entdeckt, daß ein Fahrrad das ideale Gefährt war, um jemanden zu beschatten. Es war leicht manövrierbar und unauffällig, und im Straßenverkehr war es rasch genug, um mit einem Auto und einem Pferdewagen Schritt zu halten. Aber leider schienen die Kleinbürger dieses Teils von London ihre Fahrräder unter Verschluß zu halten. Er sah einen Radfahrer und war versucht, ihn vom Sattel zu stoßen, aber gerade in diesem Augenblick näherten sich drei Fußgänger und ein Lieferwagen, und Felix wollte keinen Tumult auslösen. Wenig später sah er einen Jungen, der mit seinem Fahrrad Eßwaren auslieferte, aber es war zu auffällig, hatte vorn einen großen Korb und ein Metallschild mit dem Namen des Krämers. Felix überlegte sich bereits eine andere Strategie, als er endlich sah, was er brauchte.
    Ein Mann von etwa dreißig Jahren kam aus einem Garten und schob ein Fahrrad neben sich her. Der Mann trug einen flachen Strohhut und einen gestreiften Blazer, der sich über seinem Bauch spannte. Er lehnte sein Fahrrad an die Gartenmauer und bückte sich, um seine Hosenklammern zu befestigen.
    Felix trat rasch auf ihn zu.
    Der Mann sah seinen Schatten, blickte auf und murmelte: »Guten Tag«
    Felix schlug ihn nieder.
    Der Mann rollte auf den Rücken und blickte Felix überrascht an.
    Felix stürzte sich auf ihn und drückte ihm das Knie gegen den Mittelknopf seines gestreiften Blazers. Der Mann schnaufte heftig, krümmte sich hilflos, rang nach Luft.
    Felix stand auf und blickte zum Haus. Eine junge Frau stand an einem Fenster, sie hatte alles gesehen und hielt sich verschreckt die Hand vor den offenen Mund.
    Er schaute noch einmal auf den Mann am Boden; dieser würde mindestens eine Minute brauchen, bis er wieder auf die Beine kam. Felix bestieg er das Fahrrad und fuhr rasch davon.
    Ein Mann, der keine Angst hat, kann alles tun, was er will, dachte Felix. Das hatte er vor elf Jahren in einem Güterwagen in der Nähe von Omsk gelernt. Es hatte geschneit …

    Es schneite. Felix hatte in einem offenen Güterwagen auf einem Haufen Kohlen gesessen und furchtbar gefroren. Er hatte schon ein ganzes Jahr unter der Kälte gelitten, seit er als Kettensträfling aus der Goldmine geflohen war. In diesem Jahr hatte er ganz Sibirien durchkreuzt, vom eisigen Norden bis fast zum Ural. Jetzt war er nur noch etwa tausend Meilen von der Zivilisation und dem warmen Wetter entfernt. Den größten Teil des Weges hatte er zu Fuß zurückgelegt, wenn er auch manchmal auf Güterwagen aufgesprungen war, in denen Tierfelle transportiert wurden. Er zog Viehwagen vor, denn die Tiere hielten ihn

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