Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
warm, und er konnte von ihrem Futter essen. Er hatte das Gefühl, bereits selbst zu einer Art Tier geworden zu sein. Er wusch sich nie, als Mantel diente ihm eine gestohlene Pferdedecke, seine zerlumpten Kleider waren völlig verlaust und sein Haar war struppig und von Ungeziefer verseucht.
    Seine Lieblingssnahrung bestand aus rohen Vogeleiern. Einmal hatte er ein Pony gestohlen, es zu Tode geritten und dann seine Leber gegessen. Er hatte jeden Zeitbegriff verloren. Nach dem Wetter zu urteilen mußte es Herbst sein, aber er wußte nicht, welcher Monat gerade war. Oft konnte er sich nicht erinnern, was er am Tag zuvor getan hatte. In seinen klareren Augenblicken gewann er die Überzeugung, halb wahnsinnig zu sein. Nie sprach er mit irgend jemandem. Wenn er in eine Stadt oder ein Dorf kam, blieb er in den Außenbezirken, hielt sich nur kurz dort auf, um im Müll nach Nahrung zu stöbern. Er wußte, daß er weiter nach Westen mußte, denn dort würde es wärmer sein.
    Aber jetzt war dieser Kohlenzug auf ein Nebengleis gestellt worden, und Felix glaubte sterben zu müssen. Die Wagen wurden nämlich von einem kräftigen Polizisten in einem Pelzmantel bewacht. Er sollte die Bauern davon abhalten, Kohlen für ihre Öfen zu stehlen. Als Felix darüber nachdachte, merkte er, daß er wieder einen seiner klaren Augenblicke hatte, vielleicht den letzten … Dann roch er das Essen des Polizisten. Aber der Polizist war kräftig und gesund und hatte ein Gewehr.
    Es ist mir gleich, dachte Felix, ich sterbe sowieso.
    Er erhob sich, griff nach dem größten Kohlenklumpen, den er finden konnte, taumelte zur Hütte des Polizisten und schlug dem überraschten Mann mit dem Kohlenklumpen auf den Schädel.
    Auf dem Herd stand ein Topf mit Fleisch und Gemüse, aber das Essen war zu heiß, um gleich gegessen zu werden. Felix trug den Topf nach draußen, leerte ihn in den Schnee, kniete nieder und aß das mit Schnee vermischte Gericht. Es bestand aus Kartoffeln, Rüben, fetten Möhren und großen Fleischstücken. Er schlang es ohne zu kauen hinunter. Der Polizist stürzte aus der Hütte und schlug Felix mit seinem Knüppel kräftig auf den Rücken. Felix wurde wild vor Wut, weil dieser Mann versuchte, ihn vom Essen abzuhalten. Er sprang auf, trat mit den Füßen nach ihm, kratzte ihm über das Gesicht. Der Polizist wehrte sich mit seinem Knüppel, aber Felix fühlte die Schläge nicht. Er packte den Mann an der Kehle und drückte zu. Drückte immer fester, ließ ihn nicht los. Nach einer Weile schlossen sich die Augen des Polizisten, dann wurde sein Gesicht blau, und er streckte die Zunge heraus – endlich konnte Felix in Ruhe weiteressen.
    Er aß alles, was er in der Hütte fand, wärmte sich am Feuer, schlief im Bett des Polizisten. Als er erwachte, hatte er einen klaren Kopf. Er nahm der Leiche die Stiefel und den Mantel ab und wanderte in Richtung Omsk. Unterwegs machte er eine erstaunliche Entdeckung an sich: Er hatte keine Angst mehr. Irgend etwas war mit ihm geschehen, so als ob man einen Schalter ausgeknipst hätte. Er konnte an nichts denken, was ihm Angst gemacht hätte. Wenn er Hunger hätte, würde er stehlen; wenn er gejagt würde, würde er sich verstecken; wenn man ihn bedrohte, würde er töten. Nichts konnte ihm etwas anhaben. Liebe, Stolz, Begierde und Mitleid waren vergessene Gefühle.
    Sie alle kehrten nach einer Weile wieder zurück – bis auf die Angst. In Omsk verkaufte er den Pelzmantel des Polizisten und erwarb dafür ein Paar Hosen, ein Hemd, eine Weste und einen Mantel. Er verbrannte seine Lumpen, bezahlte einen Rubel für ein heißes Bad und eine Rasur in einem billigen Hotel. Er aß in einem Restaurant, benutzte ein Messer statt seiner Finger. Er sah das Titelblatt einer Zeitung, erinnerte sich wieder ans Lesen, und dann wußte er, daß er endlich aus dem Grab gestiegen war.

    Er saß auf einer Bank im Bahnhof an der Liverpool Street und hatte das Fahrrad neben sich an die Wand gelehnt. Er fragte sich, was für ein Mensch dieser Orlow wohl sei. Er wußte nichts über ihn, kannte nur seinen Rang und seinen Auftrag. Der Fürst mochte ein stumpfsinniger, pflichtbewußter Diener des Zaren sein, oder ein Sadist, ein Wüstling, vielleicht auch ein gutmütiger alter Herr mit weißem Haar, der sich nichts Besseres wünschte, als mit seinen Enkelkindern zu spielen. Wie auch immer, Felix war entschlossen, ihn zu töten.
    Er war sicher, Orlow leicht zu erkennen, denn Russen seines Schlages hatten keine Ahnung, wie man

Weitere Kostenlose Bücher