Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
bäumte sich auf, und die Saite wurde straffer und straffer, bis sie das Gefühl hatte, wahnsinnig zu werden. Dann brachte der letzte Ton der Freude die Saite zum Zerreißen, und sie sank zusammen und wurde ohnmächtig.
Felix legte sie sanft auf den Boden. Im Kerzenlicht wirkte ihr Gesicht friedlich, alle Spannung war gewichen, und sie sah aus wie jemand, der glücklich gestorben ist. Sie war bleich, atmete jedoch normal. Sie war in einem Dämmerzustand gewesen, wahrscheinlich unter dem Einfluß von Drogen; das wußte Felix, aber es machte ihm nichts aus. Er fühlte sich ausgelaugt und hilflos, dankbar und sehr verliebt. Wir könnten wieder ein neues Leben beginnen, überlegte er. Sie hat ihren freien Willen, sie kann ihren Mann verlassen, wir könnten in die Schweiz ziehen, Charlotte könnte zu uns kommen …
War es wirklich nur ein Wunschtraum? Er und Lydia hatten ja schon einmal derartiges geplant, damals, vor neunzehn Jahren, in St. Petersburg; aber sie waren völlig machtlos gewesen gegenüber den Wünschen der sogenannten ehrbaren Leute. Im wirklichen Leben gibt es so etwas nicht, stellte er fest. Man würde es uns auch dieses Mal unmöglich machen.
Sie werden nie zulassen, daß ich sie besitze.
Aber dafür werde ich mich rächen.
Er stand auf, zog sich rasch an und nahm die Kerze.
Noch einmal schaute er Lydia an. Ihre Augen waren noch immer geschlossen. Er wollte sie zum letztenmal berühren, zum letztenmal ihren weichen Mund küssen. Doch dann beherrschte er sich. Nie wieder, dachte er, drehte sich um und ging hinaus.
Leise schlich er über den teppichbelegten Flur und stieg die Treppen hinunter. Seine Kerze warf seltsame Schatten an die Wände. Vielleicht sterbe ich heute nacht, durchfuhr es ihn. Aber nicht bevor ich Orlow und Waiden getötet habe. Ich habe meine Tochter gesehen, ich habe meine Frau wiedergefunden, und jetzt werde ich meine Feinde töten – dann kann ich sterben.
Auf dem Treppenabsatz der ersten Etage traf er auf harten Fußboden, und sein Stiefel machte ein lautes Geräusch. Er blieb reglos stehen und lauschte. Hier gab es keine Teppiche mehr, nur den Marmorfußboden. Er wartete. Im Haus war kein Geräusch zu hören. Er zog sich die Stiefel aus und ging barfuß weiter – Socken hatte er keine.
Überall im Hause waren die Lichter gelöscht. Würde er hier jemandem begegnen? Es könnte jemand in die Küche hinuntergehen, weil er mitten in der Nacht hungrig geworden war. Ein Butler könnte träumen, er habe Geräusche gehört, und einen Rundgang durch das Haus machen, um nachzusehen. Vielleicht mußte einer der Leibwächter Orlows gerade in diesem Moment auf die Toilette. Felix lauschte angespannt, bereit, die Kerze auszublasen und sich beim geringsten Geräusch zu verstecken.
In der Halle blieb er stehen und zog die von Charlotte gezeichneten Pläne des Hauses aus der Tasche. Er warf einen Blick auf die Skizze des Erdgeschosses, hielt die Kerze dicht an das Papier, wandte sich dann nach rechts und bog in den Korridor ein.
Dann durchquerte er die Bibliothek und ging in das Waffenzimmer. Leise schloß er die Tür hinter sich und blickte sich um. Ein riesiger Kopf schien von der Wand auf ihn zuzuspringen, und Felix schreckte zurück. Die Kerze erlosch. Im Dunkeln stellte er fest, daß er einen ausgestopften Tigerkopf gesehen hatte, der an der Wand hing. Er zündete die Kerze wieder an. Überall an den Wänden hingen Jagdtrophäen: ein Löwe, ein Hirsch, sogar ein Rhinozeros. In einer Ecke stand ein Glasbehälter mit einem großen Fisch.
Felix stellte die Kerze auf den Tisch. Die Waffen befanden sich in einem Gestell an der Wand. Er sah drei doppelläufige Flinten, ein Winchester-Gewehr und etwas, was er für eine Elefantenbüchse hielt. Er hatte noch nie eine Elefantenbüchse gesehen. Aber er hatte auch noch nie einen Elefanten gesehen. Die Waffen waren mit einer Kette befestigt, die durch die Abzugsbügel lief. Felix verfolgte die Kette bis zu ihrem Ende. Sie war mit einem großen Vorhängeschloß an der Innenwand des Gestells befestigt.
Felix überlegte. Er mußte eine Waffe haben. Sein erster Gedanke war, das Vorhängeschloß zum Aufschnappen zu bringen, was er vielleicht mit einem Schraubenzieher als Hebel geschafft hätte, aber dann schien es ihm einfacher, den Haken von der Wand des Gestells loszuschrauben und die Kette mit dem Vorhängeschloß und dem Haken durch die Abzugsbügel zu ziehen.
Er schaute noch einmal auf Charlottes Plan. Neben dem Waffenzimmer lag das
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