Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
Rückgrat brechen und dann jahrelang gelähmt sein. Sie glaubte, nicht mutig genug zu sein, um sich die Pulsadern aufzuschneiden – und außerdem würde es viel zu lange dauern, bis sie verblutet wäre. Das beste, dachte sie, wäre, sich zu erschießen. Sie konnte bestimmt ein Gewehr laden und es abfeuern; sie hatte es unzählige Male gesehen. Aber dann erinnerte sie sich, daß die Waffen eingeschlossen waren.
    Schließlich fiel ihr der See ein. Ja, das war die Lösung. Sie würde auf ihr Zimmer gehen, sich einen Morgenrock anziehen, das Haus durch eine Seitentür verlassen, damit der Polizist sie nicht sah, durch den westlichen Teil des Parks gehen, an den Rhododendronsträuchern vorbei und durch den Wald bis ans Ufer. Und dann würde sie einfach immer weiter gehen, bis das kühle Wasser sich über ihrem Kopf schloß; sie würde den Mund öffnen, und eine Minute später wäre alles vorüber.
    Sie verließ das Kinderzimmer und ging im Dunkeln über den Korridor. Sie sah Licht unter Charlottes Tür und zögerte. Sie wollte ihr kleines Mädchen noch ein letztes Mal sehen. Der Schlüssel steckte außen im Schloß. Sie machte die Tür auf und trat ein.
    Charlotte saß in einem Sessel am Fenster, völlig angezogen, aber in Schlaf versunken. Ihr Gesicht war bleich, und sie hatte rote Ringe um die Augen. Das Haar war gelöst. Lydia schloß die Tür hinter sich und trat zu ihr. Charlotte öffnete die Augen.
    »Was ist passiert?« fragte sie.
    »Nichts«, erwiderte Lydia. Sie setzte sich.
    Charlotte sagte: »Erinnerst du dich noch an Nannie, als sie fortging?«
    »Ja. Du warst groß genug, um eine Gouvernante zu bekommen, und ich erwartete kein Baby mehr.«
    »Ich hatte es jahrelang vergessen. Jetzt eben erinnerte ich mich wieder daran. Hast du eigentlich gewußt, daß ich Nannie damals für meine Mutter hielt?«
    »Nein . hast du das wirklich? Du nanntest mich aber immer Mama und sie Nannie …«
    »Ja.« Charlotte sprach langsam, fast unzusammenhängend. »Du warst Mama, und Nannie war Nannie, aber jeder hatte eine Mutter, und siehst du, wenn Nannie mir sagte, du seist meine Mutter, sagte ich, sie solle nicht dumm sein, sie sei doch meine Mutter. Und Nannie lachte. Und danach hast du sie fortgeschickt. Es hat mir das Herz gebrochen.«
    »Ich hätte nie geahnt .«
    »Marya hat es dir natürlich nicht erzählt – welche Gouvernante würde das schon tun?«
    Charlotte wiederholte nur, woran sie sich erinnerte, sie klagte ihre Mutter nicht an, sondern erklärte nur: »Und so siehst du jetzt, daß ich die falsche Mutter habe, und nun weiß ich auch, daß ich den falschen Vater habe. Das Neue hat mir wahrscheinlich das Alte wieder in Erinnerung gebracht.«
    Lydia sagte: »Du mußt mich hassen. Ich verstehe es. Ich hasse mich selbst.«
    »Ich hasse dich nicht, Mama. Ich bin sehr wütend auf dich gewesen, aber ich habe dich nie gehaßt.«
    »Du hältst mich für eine Heuchlerin.«
    »Nein, nicht einmal dafür.«
    Ein Gefühl der Erleichterung durchdrang Lydia.
    Charlotte sagte: »Ich beginne zu verstehen, warum du so viel Wert auf Anstand legst, warum du so entschlossen warst, daß ich nie etwas über Sex erfahren sollte … du wolltest mich vor dem retten, was dir selbst geschehen war. Und ich habe herausgefunden, daß es harte Entschlüsse gibt, und daß man manchmal nicht sagen kann, was gut und recht ist; ich glaube, ich habe mir ein sehr strenges Urteil über dich angemaßt, obwohl ich überhaupt kein Recht dazu hatte . Ich bin nicht sehr stolz auf mich.«
    »Weißt du, daß ich dich liebe?«
    »Ja . und ich liebe dich auch, Mama, und darum fühle ich mich so elend.«
    Lydia war verblüfft. Das war das letzte, was sie erwartet hätte. Nach allem, was geschehen war – den Lügen, dem Verrat, der Wut, der Bitterkeit – liebte Charlotte sie noch immer. Eine Art stille Freude überkam sie. Mich töten? fragte sie sich. Warum sollte ich mich töten?
    »So hätten wir schon längst miteinander reden sollen«, sagte Lydia. »Ach, du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich mir das gewünscht habe«, erwiderte Charlotte. »Du hast mir immer so schön beigebracht, wie ich knicksen muß und wie ich meine Schleppe tragen und mich artig hinsetzen und mein Haar aufstecken soll … und ich sehnte mich danach, daß du mir auf die gleiche Art die wichtigen Dinge des Lebens erklärtest – wie es ist, wenn man sich verliebt und wie die Babys auf die Welt kommen. Aber du hast es nie getan.«
    »Ich konnte es einfach nicht«, sagte Lydia. »Ich

Weitere Kostenlose Bücher