Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
überhaupt gekämpft haben?«
»Wer weiß?« sagte er resigniert. »Ich wollte, du hättest dich etwas mehr mit dem Studium der Geschichte befaßt. Ich wollte, wir hätten uns mehr über derartige Probleme unterhalten. Mit einem Sohn hätte ich es getan – aber, mein Gott – ich hätte mir nie vorgestellt, daß meine Tochter sich für Außenpolitik interessieren könnte! Und jetzt sehe ich, was mich dieser Fehler kosten wird. Charlotte, ich versichere dir, daß die Aufrechnung der menschlichen Leiden nicht so simpel ist, wie Felix es dir erklärt hat. Kannst du mir nicht glauben, wenn ich dir das sage? Kannst du mir nicht vertrauen?«
»Nein«, erwiderte sie trotzig.
»Felix will deinen Vetter ermorden. Spielt das denn gar keine Rolle für dich?«
»Er wird Alex nur entführen. Er wird ihn nicht ermorden.«
Papa schüttelte den Kopf. »Charlotte, er hat bereits zweimal versucht, Alex zu ermorden, und einmal wollte er auch mich ermorden. Er hat in Rußland viele Leute umgebracht. Er ist kein Entführer, Charlotte, er ist ein Mörder.«
»Ich glaube dir nicht.«
»Aber warum glaubst du mir nicht?« fragte er mit klagender Stimme.
»Hattest du mir über die Frauenrechtlerinnen die Wahrheit gesagt? Hattest du mir über Annie die Wahrheit gesagt? Hast du mir gesagt, daß die meisten Menschen in unserem demokratischen Großbritannien nicht einmal das Wahlrecht haben? Hast du mir die Wahrheit über den Geschlechtsverkehr gesagt?«
»Nein, das habe ich nicht.« Charlotte sah zu ihrem Entsetzen, daß seine Wangen naß von Tränen waren. »Mag sein, daß alles, was ich je als Vater tat, falsch war. Ich wußte ja nicht, daß die Welt sich so verändern würde. Es sieht ganz so aus, als sei ich ein schrecklicher Versager. Aber ich tat, was ich für dich am besten hielt, weil ich dich liebte, und ich liebe dich noch immer. Und wenn ich weine, so hat es nichts mit deinen politischen Ansichten zu tun. Ich weine, weil ich mich verraten fühle. Und siehst du, ich werde bis zum äußersten kämpfen, um dir die Gerichtsverhandlung zu ersparen, selbst wenn es euch gelingen sollte, den armen Alex zu ermorden. Denn du bist meine Tochter, die mir wichtigste Person auf dieser Welt. Für dich werde ich Recht und Ruf und England zur Hölle fahren lassen. Für dich würde ich ohne einen Augenblick zu zögern Unrecht tun. Aber was mich so tief verletzt, ist, daß du nicht das gleiche für mich tun willst. Oder bist du doch dazu bereit?«
Allzu gern hätte sie ja gesagt.
»Willst du treu zu mir halten, trotz allem, was ich falsch gemacht haben könnte, ganz einfach nur, weil ich dein Vater bin?«
Aber das bist du nicht, dachte sie. Sie senkte den Kopf, konnte ihm nicht in die Augen sehen.
Eine Weile saßen sie schweigend da. Dann schneuzte Papa sich. Er stand auf und ging zur Tür. Er nahm den Schlüssel aus dem Schloß und ging hinaus. Charlotte hörte, wie er den Schlüssel umdrehte und sie einsperrte.
Sie brach in Tränen aus.
*
Die Atmosphäre bei Lydias Dinner war wieder einmal entsetzlich, und das zum zweitenmal innerhalb von zwei Tagen. Sie war die einzige Dame bei Tisch. Sir Arthur machte ein mürrisches Gesicht, weil seine große Suchaktion völlig versagt hatte. Charlotte und Alex waren in ihren Zimmern eingesperrt. Basil Thomson und Stephen begegneten sich mit eisiger Höflichkeit, denn Thomson wußte jetzt über Charlotte und Felix Bescheid und hatte gedroht, Charlotte ins Gefängnis zu schicken. Winston Churchill war da. Er hatte den Vertrag mitgebracht, ihn unterschrieben und von Alex unterschreiben lassen, aber das war kein Anlaß zur Freude, denn jeder wußte, daß der Zar sich weigern würde, ihn zu ratifizieren, falls Alex ermordet werden sollte. Churchill sagte, je eher Alex den englischen Boden verlasse, desto besser. Thomson erklärte sich bereit, eine sichere Route ausarbeiten und für einen umfangreichen Begleitschutz zu sorgen, so daß Alex schon morgen abfahren könnte. Dann gingen alle früh zu Bett, denn es gab nichts mehr zu tun.
Lydia wußte, daß sie nicht schlafen würde. Sie hatte den Nachmittag in einer Art Dämmerzustand verbracht, ausgiebig Laudanum eingenommen und sich bemüht zu vergessen, daß Felix hier in ihrem Hause war. Alex würde also morgen abreisen. Wenn man ihn nur noch für ein paar Stunden unter Bewachung halten könnte …
Sie fragte sich, ob sie nicht versuchen sollte, sich mit Felix zu treffen. Sie könnte ihm eine Lüge erzählen, ihm sagen, er werde eine gute Gelegenheit
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