Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Wagen hielt auf der Mall in der Nähe der Admiralität, eine halbe Meile vom Buckingham Palast entfernt. Papa öffnete den Korb und entnahm ihm eine Flasche Champagner. Er enthielt auch Hühnersandwiches, Treibhauspfirsiche und einen Kuchen.
Charlotte nahm ein Glas Champagner, konnte aber nichts essen. Sie blickte aus dem Fenster. Die Gehsteige waren voll von Neugierigen, die sich die Prozession der Mächtigen des Landes anschauten. Sie sah einen hochgewachsenen Mann mit einem schmalen, hübschen Gesicht, der sich an ein Fahrrad lehnte und angespannt auf ihren Wagen starrte. Etwas an seinem Aussehen ließ Charlotte erschaudern, und sie wandte sich ab.
Nach all der Aufregung im Hause und der feierlichen Abfahrt fand sie es beruhigend, eine Weile still und entspannt im Wagen zu sitzen. Und als dieser Wagen endlich durch das Palasttor fuhr und sich der großen Eingangstreppe näherte, begann sie wieder, sich ganz wie sie selbst zu fühlen – skeptisch, respektlos und ungeduldig.
Der Wagen hielt, und der Schlag wurde geöffnet. Charlotte nahm ihre Schleppe über den linken Arm, hob ihren Rock mit der rechten Hand, stieg aus und trat in den Palast.
Die große, mit roten Teppichen belegte Halle erstrahlte im Farb-und Lichterglanz. Trotz ihrer Skepsis fühlte sie sich doch erregt, als sie die Menge der in Weiß gekleideten Damen und die Männer in ihren prunkvollen Uniformen sah. Diamanten funkelten, Schwerter klirrten, Federn reckten sich empor. Beefeaters in ihren roten Jacken standen auf beiden Seiten in strammer Habachtstellung.
Charlotte und Mama ließen ihre Mäntel in der Garderobe, dann schritten sie langsam, von Papa und Alex eskortiert, durch die Halle und anschließend die große Treppe hinauf, zwischen den Yeomen der Garde mit ihren Hellebarden und den riesigen Vasen mit weißen und roten Rosen hindurch. Von dort ging es durch die Gemäldegalerie und in den ersten der drei Staatsempfangssalons mit seinen riesigen Kristalleuchtern und dem spiegelglatten Parkettfußboden. Hier endete die Prozession. Die Leute standen in Gruppen herum, plauderten und bewunderten sich gegenseitig. Charlotte sah ihre Cousine Belinda mit Onkel George und Tante Clarissa. Die beiden Familien begrüßten einander.
Onkel George trug die gleiche Kleidung wie Papa, aber da er furchtbar dick und rotgesichtig war, sah er schrecklich darin aus. Charlotte fragte sich, was die junge, hübsche Tante Clarissa wohl für einen so plumpen Ehemann empfinden konnte.
Papa blickte sich um und schien nach jemandem zu suchen. »Hast du Churchill gesehen?« fragte er schließlich Onkel George.
»Du lieber Gott, was willst du denn von dem?«
Papa nahm seine Uhr heraus. »Wir müssen jetzt unsere Plätze im Thronsaal einnehmen – und darf ich Sie bitten, meine liebe Clarissa, sich inzwischen ein bißchen unserer Charlotte anzunehmen?« Papa, Mama und Alex entfernten sich.
Belinda sagte zu Charlotte: »Dein Kleid ist einfach herrlich.«
»Aber schrecklich unbequem.«
»Wußte ich’s doch, daß du so etwas sagen würdest!« »Du bist wirklich allerliebst.«
»Danke.« Belinda dämpfte ihre Stimme. »Dieser Fürst Orlow ist aber fesch!«
»Ja, ganz süß.«
»Ich finde, er ist mehr als süß.«
»Warum schaust du mich so eigenartig an?«
Belinda flüsterte noch leiser. »Wir müssen sehr bald miteinander reden.«
»Worüber?«
»Erinnerst du dich an unser Gespräch im Versteck? Als wir uns diese Bücher aus der Bibliothek in Waiden Hall holten?«
Charlotte blickte zu ihrem Onkel und ihrer Tante hinüber, aber sie hatten sich abgewandt und sprachen mit einem dunkelhäutigen Mann, der einen rosaseidigen Turban trug. »Natürlich!«
»Darüber.«
Plötzlich herrschte Schweigen. Die Menge zog sich zu beiden Seiten des Saals zurück, um in der Mitte einen Durchgang zu öffnen. Charlotte schaute sich um, sah den König und die Königin, gefolgt von ihren Pagen, einigen Mitgliedern der königlichen Familie und der indischen Leibwache in den Empfangssaal treten.
Man vernahm ein lautes Rascheln von Seide, als alle anwesenden Frauen einen tiefen Hofknicks machten.
Im Thronsaal stimmte das auf der Spielmannsgalerie verborgene Orchester das God Save the King an. Lydia blickte auf die große, von zwei Riesen in Gold bewachte Tür. Zwei Hofdiener traten rückwärts ein und trugen je einen goldenen und einen silbernen Stab. Der König und die Königin erschienen, schritten langsam und majestätisch voran, lächelten huldvoll. Sie stiegen auf die
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