Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
zu.
Als er ihn erblickte, sagte er: »Ach, Felix, wie geht’s?«
»Ich muß mit dir reden«, sagte Felix auf jiddisch.
»So rede.«
»Komm hinaus.«
Nathan zog sich seine Jacke an, und sie gingen auf die Sydney Street hinaus. Sie standen in der Sonne, ganz in der Nähe des offenen Fensters der Schneiderei, und der Lärm von drinnen übertönte ihr Gespräch.
»Das Geschäft meines Vaters«, erläuterte Nathan. »Er bezahlt einem Mädchen fünf Pence für das Nähen einer Hose – und das ist eine Stunde Arbeit für sie. Dann bezahlt er weitere drei Pence für das Zuschneiden, Bügeln und Knöpfeannähen. Schließlich bringt er die Hose zu einem Schneider im West End und bekommt neun Pence dafür. Gewinn: Ein Penny – gerade genug für eine Scheibe Brot. Wenn er von dem Schneider im West End zehn Pence verlangt, wird er rausgeschmissen, und man gibt die Arbeit einem der jüdischen Schneider, die mit ihren Maschinen unter dem Arm zu Dutzenden draußen auf der Straße stehen. Das ist kein Leben für mich.«
»Bist du deshalb Anarchist?«
»Diese Leute machen die schönste Kleidung der Welt -aber hast du gesehen, wie sie angezogen sind?«
»Und wie soll man das ändern? Durch Gewalt?«
»Das glaube ich.«
»Ich wußte, daß du so denkst. Nathan, ich brauche eine Waffe.«
Nathan lachte nervös. »Wozu?«
»Wozu braucht ein Anarchist wohl eine Waffe?«
»Du wirst es mir sagen, Felix.«
»Um von den Dieben zu stehlen, Tyrannen zu unterdrücken, Mörder zu töten.«
»Und was hast du damit vor?«
»Ich werde es dir sagen – falls du es tatsächlich wissen willst …« Nathan dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Geh zur Bratpfanne, das ist ein Pub an der Ecke Brick Lane/Thrawl Street. Dort wendest du dich an Garfield, den Zwerg.«
»Ich danke dir!« sagte Felix, der den Triumph in seiner Stimme nicht verbergen konnte. »Was muß ich dafür bezahlen?«
»Fünf Shilling für eine Zündnadelpistole.«
»Ich hätte aber lieber etwas Zuverlässigeres.«
»Gute Waffen sind teuer.«
»Dann werde ich wohl schachern müssen.« Felix schüttelte Nathan die Hand. »Danke jedenfalls.«
Nathan sah ihn auf das Fahrrad steigen. »Vielleicht erzählst du es mir später einmal.«
Felix lächelte. »Du wirst es in der Zeitung lesen.« Er winkte ihm zu und radelte davon.
Er fuhr die Whitechapel Road und dann die Whitechapel High Street entlang und bog nach rechts in die Osborn Street ein. Hier veränderte sich plötzlich das Straßenbild. Es war der heruntergekommenste Teil Londons, den er bisher gesehen hatte. Die Straßen waren schmal und sehr schmutzig, die Luft voller Rauch und Lärm, und die Leute meist in Lumpen. In den Rinnsteinen häufte sich der Unrat. Trotzdem herrschte Geschäftigkeit wie in einem Bienenkorb. Männer rannten mit Handkarren auf und ab, Menschenmengen stauten sich um die Straßenverkäufer, an jeder Ecke boten sich Huren feil, und die Werkstätten der Tischler und Schuhmacher erstreckten sich bis auf die Gehsteige.
Felix stellte sein Rad vor der Tür der Bratpfanne ab. Falls man es ihm stehlen sollte, würde er sich einfach ein anderes beschaffen. Um in den Pub zu gelangen, mußte er über etwas steigen, das wie eine tote Katze aussah. Die Schenke war ein einziger Raum mit niedriger Decke und einer Theke am hinteren Ende. Ältere Männer und Frauen saßen auf Bänken an den Wänden, während die jüngeren in der Mitte des Raumes standen. Felix ging an die Theke und bestellte sich ein Glas Ale und eine kalte Wurst.
Er schaute sich um und entdeckte Garfield, den Zwerg. Er hatte ihn vorher nicht bemerkt, weil er auf einem Stuhl stand. Er war etwa einen Meter zwanzig groß, mit einem großen Kopf und einem Gesicht mittleren Alters. Ein riesiger schwarzer Hund saß auf dem Fußboden neben seinem Stuhl. Garfield sprach mit zwei großen, verwegen aussehenden Männern in Lederwesten und Hemden ohne Kragen. Sie hätten Leibwächter sein können. Felix bemerkte ihre dicken Bäuche und schmunzelte. Die beiden Männer hatten Literkrüge mit Ale vor sich stehen, aber der Zwerg schien Gin zu trinken. Der Barmann schob Felix sein Bier und seine Wurst zu. »Und ein Glas vom besten Gin«, sagte Felix zu ihm.
Eine junge Frau an der Theke blickte ihn an und fragte:
»Ist das für mich?« Sie lächelte kokett und ließ ihre fauligen Zähne sehen. Felix blickte fort.
Als der Gin eingeschenkt war, bezahlte er und ging zu der Gruppe hinüber, die in der Nähe eines kleinen, auf die Straße
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