Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Ende zu setzen!«
Eine Frauenrechtlerin! registrierte Lydia entsetzt.
Sie warf ihrer Tochter einen Blick zu. Charlotte stand ganz still, auf halbem Weg zur Empore, starrte erschrocken und bleich auf die Szene vor sich.
Das schockierte Schweigen im Thronsaal dauerte kaum eine Sekunde. Zwei Kammerherren reagierten äußerst rasch. Sie sprangen hervor, nahmen das Mädchen fest bei den Armen und führten es ohne weitere Umstände aus dem Saal.
Die Königin war puterrot geworden. Der König ließ sich nichts anmerken, blickte drein, als sei nichts geschehen. Lydia schaute wieder auf Charlotte. Warum muß ausgerechnet meine Tochter die nächste sein? fragte sie sich.
Jetzt waren alle Augen auf Charlotte gerichtet. Am liebsten hätte Lydia ihr zugerufen: Laß dich nicht verwirren, ignoriere den Zwischenfall und tu, als ob nichts geschehen sei!
Charlotte stand still. Ein wenig Farbe kam in ihre Wangen zurück. Lydia konnte sehen, daß sie tief durchatmete.
Dann trat sie vor. Lydia stockte der Atem. Charlotte übergab ihre Karte dem Oberhofmeister, der verkündete:
»Lady Charlotte Waiden bittet, sich vorstellen zu dürfen.«
Charlotte stand vor dem König.
Nimm dich zusammen! ermahnte Lydia sie wortlos, bangend.
Charlotte knickste vollkommen.
Dann knickste sie vor der Königin.
Schließlich wandte sie sich ab und schritt davon.
Lydia stieß seufzend ihren Atem aus.
Die Frau, die neben Lydia stand – eine Baronin, die ihr dem Namen nach, aber nicht persönlich bekannt war -flüsterte: »Das hat sie sehr gut gemeistert.«
»Sie ist meine Tochter«, sagte Lydia lächelnd.
Waiden amüsierte sich insgeheim über die Frauenrechtlerin. Ein entschlossenes Mädchen! fand er. Natürlich wäre er entsetzt gewesen, wenn Charlotte sich etwas Derartiges vor dem versammelten Hof geleistet hätte, aber da es nicht seine Tochter war, betrachtete er den Zwischenfall als eine willkommene Abwechslung in dieser endlosen Zeremonie. Er hatte Charlottes untadeliges Verhalten bemerkt, aber nichts anderes von ihr erwartet. Sie war eine höchst selbstbewußte junge Dame, und seiner Meinung nach sollte sich Lydia zu der guten Erziehung ihrer Tochter beglückwünschen, anstatt sich ständig Sorgen zu machen.
Vor Jahren hatte er diese Festlichkeiten genossen. Als junger Mann hatte es ihm Spaß gemacht, in höfischer Kleidung zu erscheinen und eine gute Figur zu machen. Damals hatte er auch noch die richtigen Beine dafür. Jetzt kam er sich lächerlich vor in seinen Kniehosen und den Seidenstrümpfen, von dem verdammten großen Stahlschwert an seiner Seite ganz zu schweigen. Und er hatte so viele höfische Feste mitgemacht, daß all die prunkvollen Riten ihm nichts mehr bedeuteten.
Er fragte sich, wie König George wohl darüber dachte. Waiden mochte den Monarchen. Natürlich war er im Vergleich zu seinem Vater, Edward VII., ein ziemlich farbloser und milder Mann. Ihm würde die Menge nie: »Der gute alte Georgie!« zurufen, wie sie einst: »Der gute alte Teddy!« gerufen hatte. Aber schließlich würde sich auch George beliebt machen, mit seinem ruhigen Charme und seiner bescheidenen Lebensweise. Er war durchaus fähig, fest und entschlossen zu sein, wenn er es auch bisher zu selten gezeigt hatte. Waiden liebte an ihm vor allem seine Aufrichtigkeit. Der Mann gab zu den besten Hoffnungen Anlaß.
Endlich knickste die letzte Debütantin, entfernte sich, und der König und die Königin standen auf. Das Orchester spielte noch einmal die Nationalhymne. Der König verneigte sich, die Königin knickste, zuerst vor den Gesandten, dann zu den Frauen der Gesandten, schließlich vor den Herzoginnen und zuletzt vor den Ministern. Der König faßte die Königin bei der Hand. Die Pagen nahmen ihre Schleppe auf. Die Hofbeamten gingen rückwärts hinaus. Das Königspaar verließ den Thronsaal, gefolgt von den übrigen Anwesenden, je nach ihrem Vortrittsrang.
Draußen trennten sie sich, um sich in die verschiedenen Speisesäle zu begeben. Es waren ihrer drei: Einer für die königliche Familie und ihre nahen Freunde, einer für das diplomatische Korps, einer für die übrigen. Waiden war ein Freund des Königs, aber kein intimer. Er schloß sich der allgemeinen Gesellschaft an. Alex ging mit den Diplomaten.
Im Speisesaal traf sich Waiden wieder mit seiner Familie. Lydia strahlte. Waiden sagte: »Ich gratuliere, Charlotte.«
»Wer war dieses schreckliche Mädchen?« fragte Lydia.
»Ich hörte jemanden sagen, sie sei die Tochter eines
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