Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Chiffonseide gewickelten Rosenstrauß in der Hand. Die Diamantentiara saß sicher auf ihrem aufgekämmten Haar, und die beiden weißen Federn waren ebenfalls gut befestigt. Alles nahm sich wunderbar aus.
Aber sie war furchtbar nervös.
»Wenn ich den Thronsaal betrete«, sagte sie zu Marya, »werde ich meine Schleppe verlieren, die Tiara wird mir über die Augen rutschen, mein Haar wird sich auflösen, meine Federn sich zur Seite neigen, und ich werde auf den Saum meines Kleides treten und der Länge nach auf den Boden fallen. Die versammelte Gesellschaft wird in Gelächter ausbrechen, und niemand wird lauter lachen als Ihre Majestät die Königin. Und dann werde ich aus dem Palast rennen und mich im Park in den See stürzen.«
»Du solltest nicht solche Reden führen«, sagte Marya. Dann fügte sie etwas ernsthafter hinzu: »Du wirst die Allerschönste sein.«
Charlottes Mutter kam ins Schlafzimmer. Sie stellte sich vor Charlotte und musterte sie. »Mein liebes Kind, du bist wunderschön«, sagte sie und gab ihr einen Kuß.
Charlotte schlang die Arme um Mamas Hals und drückte ihre Wange an die ihre, wie sie es als Kind zu tun pflegte, wenn sie von der samtenen Weichheit des Teints ihrer Mutter fasziniert war. Als sie sich wieder zurückzog, war sie überrascht, den Schimmer einer Träne im Auge ihrer Mutter zu sehen.
»Mama, du bist ebenfalls wunderschön«, sagte sie.
Lydias Kleid war aus elfenbeinfarbigem Crepe de Chine mit einer Schleppe aus altem Brokat mit purpurfarbenem Chiffonbesatz. Als verheiratete Dame trug sie drei Federn in ihrem Haar, während bei Charlotte zwei genügten. Ihr Bukett bestand aus Gartenwicken und Petuniarosen.
»Bist du bereit?« fragte sie.
»Ich bin schon lange bereit«, erwiderte Charlotte.
»Nimm deine Schleppe auf.«
Charlotte nahm ihre Schleppe auf, so wie sie es gelernt hatte.
Mama nickte zufrieden. »Wollen wir gehen?«
Marya öffnete die Tür. Charlotte trat beiseite, um ihre Mutter vorangehen zu lassen, aber Mama sagte: »Nein, mein Kind – es ist dein Abend.«
Sie gingen, von Marya gefolgt, hintereinander durch den Korridor bis zum Treppenabsatz. Als Charlotte oben auf der großen Treppe erschien, hörte sie lautes Beifallklatschen.
Der gesamte Haushalt hatte sich am Fuß der Treppe versammelt: Haushälterin, Köchin, Lakaien, Zofen, Putzfrauen, Hausdiener und Boys. Alle blickten mit Stolz und Entzücken zu ihr auf. Charlotte war gerührt über die Zuneigung, aber schließlich war es ja auch für sie ein großer Abend.
Und inmitten des Personals stand Papa, imposant anzuschauen in seinem schwarzen Samtfrack, den Kniehosen und den Seidenstrümpfen, das Schwert an der Seite und den Dreispitz in der Hand.
Charlotte schritt langsam die Treppe hinunter.
Papa küßte sie und sagte: »Mein liebes kleines Mädchen.«
Die Köchin, die sie lange genug kannte, um sich eine kleine Freiheit herauszunehmen, zupfte sie am Ärmel und flüsterte ihr zu: »Sie schauen wunderbar aus, gnädiges Fräulein.«
Charlotte drückte ihr die Hand und sagte: »Danke, Mrs. Harding.« Alex verneigte sich vor ihr. Auch er sah prächtig aus in der Admiralsuniform der russischen Kriegsmarine. Er ist wirklich ein hübscher Mann, fand Charlotte; es sollte mich nicht wundern, wenn sich heute abend jemand in ihn verliebt.
Zwei Lakaien öffneten die Eingangstür. Papa nahm Charlottes Arm und führte sie behutsam hinaus. Mama folgte an Alex’ Arm. Charlotte überlegte: Wenn es mir gelingt, den ganzen Abend über an nichts zu denken und mich automatisch überall hinführen zu lassen, wo man mich hinführt, kann mir nichts passieren.
Die Kalesche wartete draußen. Der Kutscher William und der Lakai Charles standen in Habachtstellung an beiden Seiten des Schlags. Sie trugen die Livree mit dem Waidenschen Wappen. Papa half Charlotte in den Wagen, und sie setzte sich dankbar. Ich bin noch nicht gestolpert, bemerkte sie zufrieden.
Dann stiegen die anderen drei ein. Pritchard brachte einen Eßkorb und stellte ihn auf den Boden des Wagens, bevor er die Tür schloß.
Während sich die Kalesche rüttelnd in Bewegung setzte, blickte Charlotte auf den Korb. »Ein Picknick?« fragte sie.
»Für eine Fahrt von einer halben Meile?«
»Warte nur, bis du die Wagenschlange siehst«, erwiderte Papa. »Wir werden mindestens eine Stunde brauchen, bis wir am Ziel sind.«
Charlotte fragte sich, ob sie sich heute abend nicht eher gelangweilt als nervös fühlen werde.
Es kam, wie Papa vorausgesagt hatte. Der
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