Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Empore und stellten sich vor ihre beiden Thronsessel. Ihre Gefolgschaft begab sich zu ihren Plätzen in der Nähe und blieb ebenfalls stehen. Queen Mary trug ein Kleid aus Goldbrokat und eine Smaragdkrone. Eine Schönheit ist sie nicht, stellte Lydia fest, aber angeblich betet er sie an. Sie war einst mit dem älteren Bruder ihres jetzigen Mannes verlobt gewesen, der dann an Lungenentzündung gestorben war, und ihre Vermählung mit dem neuen Thronerben hatte seinerzeit als ein kalter politischer Entschluß gegolten. Aber inzwischen hatten sich alle überzeugt, daß sie eine gute Königin und eine gute Ehefrau war. Lydia hätte sie gern persönlich gekannt.
Die Vorstellungen begannen. Die Frauen der Gesandten traten einzeln vor, knicksten vor dem König, knicksten vor der Königin, zogen sich wieder zurück. Ihnen folgten die Gesandten in den verschiedenartigsten prunkvollen Operettenuniformen, abgesehen von dem Gesandten der Vereinigten Staaten, der in einem gewöhnlichen schwarzen Abendanzug erschienen war, wie um damit öffentlich kundzutun, daß die Amerikaner sich nichts aus derartigem Pomp machten.
Während die Zeremonie ihren Lauf nahm, blickte sich Lydia im Saal um, sah die rotseidenen Wandbehänge, das kunstvoll gemeißelte Fries an der Decke, die riesigen Kristalleuchter, den Schmuck der vielen tausend Blumen. Sie liebte Pomp und Feierlichkeit, schöne Kleider und höfische Etikette; es rührte und besänftigte sie zugleich. Sie erhaschte einen Blick der Duchess of Devonshire, der Oberhofmeisterin für die Kleider der Königin, und sie lächelten sich diskret zu. Sie erblickte auch John Burns, den sozialistischen Handelsminister, und fand es amüsant, ihn in höchst extravaganter höfischer Kleidung zu sehen.
Nachdem die Begrüßung der Diplomaten beendet war, setzten sich der König und die Königin. Die königliche Familie, das diplomatische Korps und die Mitglieder des Hochadels machten es ihnen nach. Lydia, Waiden und die Adligen niedrigeren Ranges mußten stehenbleiben.
Endlich begann die Vorstellung der Debütantinnen. Jedes Mädchen blieb kurz vor dem Thronsaal stehen, während ein Hofbeamter ihm die Schleppe vom Arm nahm und hinter ihm ausbreitete. Dann begann der lange Weg über den roten Teppich bis zu den Thronen, unter den Blicken aller Anwesenden. Ein Mädchen, das in dieser Situation Ruhe, Anmut und Würde zeigte, hatte eine Art Feuerprobe fürs Leben bestanden.
Während die Debütantin an die Empore trat, übergab sie dem Oberhofmeister ihre Einladungskarte, der dann ihren Namen ausrief. Sie knickste zuerst vor dem König, dann vor der Königin. Lydia fand, daß nur wenige Mädchen elegant knicksten. Sie hatte alle Mühe gehabt, Charlotte zum Üben anzutreiben, und vielleicht hatten die anderen Mütter das gleiche Problem. Nach dem Knicksen mußte die Debütantin beim Weitergehen aufpassen, daß sie dem Thron nicht den Rücken zuwandte, bevor sie in der Menge verschwunden war.
Die Mädchen folgten einander so nahe, daß jedes Gefahr lief, dem vorangehenden auf die Schleppe zu treten. Die Zeremonie schien Lydia weniger persönlich und viel oberflächlicher, als sie früher zu sein pflegte. Sie selbst war der Königin Victoria in der Saison von 1896, ein Jahr nachdem sie Waiden geheiratet hatte, vorgestellt worden. Die alte Dame hatte nicht auf einem Thron, sondern auf einem hohen Stuhl gesessen, der ihr den Anschein gab, als stehe sie. Lydia war von der kleinen Gestalt Victorias überrascht gewesen. Sie mußte ihr die Hand küssen. Dieser Teil der Zeremonie entfiel jetzt, wahrscheinlich um Zeit zu gewinnen. Man sollte meinen, der Hof sei zu einer Fabrik geworden, in der möglichst viele Debütantinnen in möglichst kurzer Zeit herausgebracht werden sollten. Aber schließlich kannten die jungen Mädchen von heute ja nicht den Unterschied, und selbst wenn sie ihn kannten, würde es ihnen nichts ausmachen.
Plötzlich war Charlotte an der Eingangstür, der Hofbeamte legte ihre Schleppe nieder, gab ihr einen sanften Stoß, und schon schritt sie über den roten Teppich, erhobenen Hauptes, vollkommen ruhig und selbstbewußt. Lydia dachte: Das ist der Augenblick, für den ich gelebt habe.
Das Mädchen vor Charlotte knickste – und dann geschah das Undenkbare.
Anstatt sich von ihrem Knicks zu erheben, blickte die Debütantin den König an, streckte die Arme in einer bittenden Geste aus und rief mit lauter Stimme:
» Majestät, ich beschwöre Sie um Gottes willen, der Folterung der Frauen ein
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