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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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hatte und nun in Unterhosen vor ihm stand, und war auch gleich wieder in seinen Kaffee vertieft.
    Es wurde mehrmals an die Tür geklopft, bis der mutmaßliche Anstaltsleiter von seiner Mokkaschale aufblickte und sich fragend umsah. Ich war nicht minder irritiert und zeigte zur Tür, die ja nicht meine, sondern seine Tür war. »Ach ja«, sagte er und dann, in einem singenden Tonfall: »Herein, herein.«
    Herein trat Heinz Neuper, und zwar angezogen. Bei ihm war eine Frau in einem blassblauen Arbeitsmantel. Wortlos legte sie einen Stoß Zeitungen auf dem Schreibtisch ab und machte sich nun daran – in jener pflegerischen Art, die keinen Widerspruch duldet –, mir beim Ankleiden behilflich zu sein. Es überraschte mich nicht, dass alles ausgezeichnet passte. Dann öffnete sie meinen Verband und behandelte meine Wunde mit einer Tinktur. Wunde ist ein zu harmloser Ausdruck. Es sah aus, als hätte ein großes, böses Tier ausgiebig auf meiner Hand herumgebissen und erst damit aufgehört, nachdem dieses Spielzeug nichts mehr hergegeben hatte. Ich konnte nicht glauben, dass eine solche Verletzung von einem bloßen Durchschuss stammte. Viel eher von einem misslungenen Experiment. Einer diabolischen Operation.
    Die Frau legte mit großem Geschick einen neuen Verband an. Dann verpackte sie die Hand ein zweites Mal, indem sie einen Seidenschal darumwickelte und etwas wie »Der Schal ist von der Chefin« murmelte. Dabei schaute sie mich kein einziges Mal an, ignorierte meinen Dank und verließ das Büro.
    Der Leiter der Psychiatrie, wenn es denn der Leiter war (denn wer war dann die Chefin?), schenkte uns Kaffee ein, konzentrierte sich aber gleich wieder auf seine englischsprachige Zeitung, die ihn zu amüsieren schien. Mehr als ein Schmunzeln gab er jedoch nicht frei. Seine stumme Vornehmheit machte mich nervös. Ich hätte gern etwas gesagt. Dann sah ich den Wattebausch, der im linken Ohr des Leiters steckte und dem Organ etwas Blumiges verlieh. Ich unterließ die Taktlosigkeit, aufzustehen und auch nach dem anderen Ohr zu sehen. Ohnehin ging ich davon aus, dass es auf die gleiche Weise präpariert worden war.
    »Komm mit«, sagte Heinz, nachdem wir rasch den Kaffee ausgetrunken hatten. Wir waren beide erleichtert, als wir die Tür hinter uns geschlossen hatten. Manche Menschen strahlen eine Zufriedenheit aus, die man im Kopf nicht aushält.
    Heinz dirigierte mich durch die Gänge. Auf einer von diesen großen, schlichten Küchenuhren, auf denen die Zeit stets einen leicht hinkenden Charakter besitzt, sah ich, dass es bereits nach zehn war. Wieder herrschte reger Betrieb. Überall waren Schachbretter aufgestellt. Die meisten davon in einer Art Speisesaal, in welchem die Luft dick und klebrig über den Köpfen hing, als wäre es tatsächlich das Resultat qualmender Hirne. Hinter den Figurenreihen saßen nicht bloß die Spieler, sondern standen ganze Menschentrauben, die das jeweilige Spiel kommentierten, wild durcheinanderflüsternd, sodass sich ein an- und abschwellendes Summen ergab. Ich meinte sogar, einige der Spieler zu erkennen, etwa einen in der freien Schweiz beheimateten Großmeister russischer Herkunft, der soeben vom Sessel aufgesprungen war, wohl um irgendeinen Protest gegen eine russische Delegation einzulegen. Denn wenn es hier auch keine wirkliche Delegation gab, Russen gab es zur Genüge, man erkannte sie…nun, es lag etwas Russisches in der Luft. Ich meine nicht das Abgestandene, Feuchte, ich meine…etwas Grundlegendes. Als wäre alles Gute und Schlechte auf der Welt zunächst einmal russisch. Und irgendwann später erst international oder schweizerisch oder was auch immer.
    Natürlich kam es mir merkwürdig vor, dass ein Schachturnier, möglicherweise eines von Weltgeltung, in einem solchen Gebäude wie dem Hauptstätter Hospital stattfand. Ich meinte jetzt sogar zwei weitere berühmte Schachspieler zu erkennen, Groß- und Weltmeister. Verblüffend. Besaßen die Veranstalter eine dermaßen ironische Ader, dass sie die besten Spieler der Welt inmitten offiziellen Verrücktseins gegeneinander antreten ließen? Mir gefiel diese Vorstellung. Nicht, weil ich Schach für verrückter halte als Autofahren oder Brotbacken. Das Anlegen von Blumenbeeten oder Agrarmärkten oder Sparkonten ist sicherlich verrückter als Schach, aber es handelt sich dabei um sehr allgemeine Tätigkeiten, die über das Massenhafte den Eindruck des Absonderlichen verloren haben. Schach hingegen bleibt etwas Bizarres, vielleicht eben

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