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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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mich, so wie Keßler auf mich gezeigt hatte. Heinz schien vergessen zu haben, dass ich aus Österreich stammte, welches freilich eine Steigerung der Treulosigkeit ins Bodenlose bedeutet.
    Nachdem er lange genug mit dem Finger in meiner Aura herumgestochert hatte, begann er erneut zu schluchzen, redete sich in eine kaum nachvollziehbare hymnische Analyse der russischen Seele, sprach bald zu sich selbst oder – wie mir schien – mit Natalja, sank auf die Knie, faltete die Hände und bat seine Frau unter Tränen um Vergebung, sie nicht gerettet zu haben. Plötzlich verstummte er, hörte zu schluchzen auf, spitzte die Ohren, als wäre seine Natalja tatsächlich erschienen, um ihn – Russin wie eh und je, also bei aller Gefühlswärme praktisch veranlagt – daran zu erinnern, dass er das Unglück gar nicht habe verhindern können und sie ihn ohnehin weiterhin lieb haben werde, solange das eben gehe, wenn man körper- und (ironischerweise) auch ein wenig geistlos den Lebenden beim Leben zusehen müsse. Scheinbar hatte sie ihm auch gesagt, dass er aufhören solle, mir die Schuld zu geben, denn als er sich nun erhob und auf mich zukam, war sein Blick milde. Er reichte mir die Hand, die ich nahm, und bot mir das Du an, gegen das ich mich ebenso wenig sträubte. Ich erklärte, dass ich Robert hieße, worauf er mir erklärte, dass es dabei bleibe, dass man zusammen diese Sache zu einem gerechten Ende führen werde.
    »Wir sollten zur Polizei gehen«, sagte ich.
    »Unsinn, Robert. Denk an den Burschen, der dich umlegen wollte.«
    »Keßler.«
    »Ist ein Bulle gutmütig, tut er nichts. Tut er was, ist er nicht gutmütig.«
    »Du übertreibst.«
    Er blickte mich eingehend an, als zweifle er an meinem Verstand. Dann drehte er mir den Rücken zu und erzählte der Bücherwand, dass er es auch allein schaffen werde, hinter die Sache zu kommen.
    Dorthin also wollte Heinz in seiner Verzweiflung. Hinter die Sache. Um zu erkennen. Und um zu töten. So sind die kleinen Leute, wenn man sie erst einmal von ihren Fernsehern weggelockt hat.
    Nun, ich war ja selbst einer, der von seinem Fernseher weggelockt worden war. Und im Grunde traute ich der Polizei ebenso wenig. Was war denn von Remmeleggs Freundlichkeit zu halten? Reichte sie zu mehr, als die Abhängung des Totentanzes von Basel zu empfehlen?
    Es klopfte an der Tür des Büros. Eine junge Frau trat ein, ein dunkles Herrensakko, eine helle Hose und ein weißes Hemd sowie einen gefütterten Regenmantel über dem Arm und ein Tablett in den Händen balancierend. Sie sprach mit gesenktem Kopf wie in eine Gasmaske hinein, grüßte, servierte Kaffee und Cognac, verschwand kurz, kam mit mehreren Wolldecken zurück und teilte uns mit, wir könnten hier auf den beiden Sofas übernachten. Nachdem sie gegangen war, kostete ich den Kaffee. Hervorragend, so, als wäre Frau K.s versprochene Privatmischung doch noch angekommen. Meine Nachtruhe würde nicht darunter leiden. Heinz aber begnügte sich mit dem Weinbrand, stürzte ihn hinunter und wich alsbald in den Schlaf aus.
    Mit dem Kaffee hatte ich mich getäuscht. Ich lag noch eine Stunde herum, mit drängender Blase, wagte aber nicht, eine Toilette aufzusuchen. Letztendlich verband sich der urinale Druck mit dem Schmerz in meiner Hand, und zusammen bildeten sie einen schweren Block: Morpheus’ Brustkorb. Der Schlaf begrub mich geradezu. Im Traum erstickte ich. Nicht aber meine Hand, aus der allein ich dann bestand, aus ihr und ihrer Qual.
    Mit dem Erwachen zog der Schmerz auch wieder in die übrigen Körperteile ein, was mir zumindest ein Gefühl der Vollständigkeit bescherte.
    »Guten Morgen«, erklang es vom Schreibtisch, hinter dem ein grauhaariger Mann saß, der meiner Vorstellung gemäß nichts von einem Psychiatrieleiter besaß, dafür alles von einem Gefängnisdirektor. Was ich als Kompliment meine, denn dieser Mensch sah gepflegt aus. Er stellte eine manikürte, nicht jedoch parfümierte Erscheinung dar, war geschmackvoll gekleidet, mit einem konservativen Touch, der das Auge erfreute. Er erinnerte an den späten Charlie Chaplin. Nur dass er schlanker wirkte. Er rauchte eine Zigarette in einer konzentrierten, genießerischen Art und trank Kaffee aus einer dunkelbraunen Mokkaschale. Ein Mann, der genügend Muße hatte, weil sein Betrieb auch ohne großes Geschrei funktionierte.
    Ich stand auf und erwiderte seinen Gruß. Er schenkte mir einen jovialen Blick, schien in keiner Weise irritiert ob des Umstands, dass ich hier übernachtet

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