Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
gegen ideologische Signale, nichts gegen die Umwandlung von Dreck in Dekor, nichts gegen Chemie in den Haaren und zerstochene Gesichter, aber wer auf gute Unterwäsche, auf gutes Schuhwerk Wert legt, der besitzt Grips. Dem gehört meine Achtung. Da kann er die Gesellschaft verachten, so viel er will.
Der Mann wurde uns als Erik vorgestellt. Auch er befand sich in Begleitung eines Hundes, eines kleinen, rattenähnlichen Wesens. Wie bei den Spießern: Große, starke Menschen lieben kleine Hunde.
So bildeten wir eine skurrile Gruppe, der die anderen Passanten auswichen. Es war schon merkwürdig, einmal auf der anderen Seite zu stehen, nicht der Zuseher, sondern das Bild auf dem Schirm zu sein, das alle möglichen Gefühle provoziert.
Wir stiegen in die Straßenbahn mit der Nummer fünfzehn, ein altes Vehikel, mehr eine Liliputbahn. Die Knie der Gegenübersitzenden drohten aneinanderzustoßen, weshalb die Fahrgäste vertrackte Körperhaltungen einnahmen, sodass der Eindruck von etwas Behindertem und Invalidem entstand. An einer der oberen Fensterscheiben war ein Gedicht angebracht. Darin drohte der Autor den Elektrizitätswerken. Natürlich nicht mit Bomben oder Erpressung – was ja kaum die richtige Lyrik für den öffentlichen Raum gewesen wäre –, sondern bloß mit einer niedrigen oder gar keiner Zahlung des Strompreises, da er, der Verfasser, in letzter Zeit sein Licht, seine Wärme und ähnliche elektroenergetische Leistungen aus den Augen, den hinreißenden Augen einer geliebten Frau bezogen hatte. – Armes Gedicht, dachte ich, lieblos auf die Scheibe geklatscht, ungelesen, eine Speise, die trotz allgemeinen Hungers nicht verzehrt wird.
Ich saß neben Erik, der seinen Dackelmischling auf dem Schoß hatte. Der Dackel sah an mir vorbei aus dem Fenster, konzentriert, stolz, mit spitzer, vorgereckter Schnauze, eine lebendige Kühlerfigur. Er schaute hinaus auf UFA-Palast und den Nordbahnhof, auf den Rosensteinpark, auf Bürogebäude mit dem Reiz halbierter Wolkenkratzer, auf die Weinberge, auf denen der Schnee sich lange genug hielt, um nicht einfach nur dreckig, sondern todkrank auszusehen.
Nach einer Viertelstunde erreichten wir Zuffenhausen. Doch war es nicht das Ende unserer Reise, auch wenn der Eindruck von Zuffenhausen eine erschreckende, unbenennbare Endgültigkeit besaß. Aber wie im Leben: Es kommt immer etwas nach. Wir fuhren weiter und kamen nach Stammheim. Ebenjenes in der ganzen Welt berühmte Stammheim: ein kleines, hässliches Dorf, welches das Glück hatte, an seinem Rand ein gewaltiges und bedeutendes Stück Architektur zu besitzen, zunächst einmal das Gefängnis und dann die sogenannte Mehrzweckhalle. Ich muss gestehen, ein wirklich schöner, weil in seinem hochsicherheitlichen Anspruch wahrhaftiger Gebäudekomplex. Eine siloartige Kathedrale in der Einöde, die das Tragische des Einsperrens und Eingesperrtseins nicht verheimlicht, sondern herausstellt. Eine Müllverwertungsanlage, die sich nicht als Vergnügungspark tarnt.
Mehrere gleichartige, lang gestreckte, in Reihen aufgestellte Wohnhäuser reichten bis an die südliche Mauer der Vollzugsanstalt heran, was mich doch sehr überraschte. Pflänzchen im Schatten des Kolosses. Die Punks steuerten uns in eines dieser Häuser. Fisch besaß einen Schlüssel, um die Eingangstür und jene, die hinunter in den Keller führte, zu öffnen. Vorbei an Verschlägen und Warmwasserheizung gelangten wir in einen Stollen und hielten nach kurzer Zeit vor einer Metalltür.
Ich hatte dahinter einen weiteren Keller erwartet und war dementsprechend perplex, als wir nun in einen hohen, mit Neonröhren hell erleuchteten, fensterlosen Saal traten, eine Turnhalle, wie ich jetzt an den Sprossenwänden und den verwaschenen Linien auf dem Parkett erkannte. Ansonsten erinnerte nichts mehr an die körperliche Ertüchtigung, die hier einst Programm gewesen sein musste. Überall lagen Menschen auf Schlafsäcken oder zerfressenen Matten, schrille Gestalten. Man konnte die beträchtliche Zahnlosigkeit und Zahnfäulnis förmlich spüren. Der Zahnschmerz drang mir viel mehr ins Bewusstsein als der viele Alkohol und die Drogen, die hier eingenommen wurden, um den Zahnschmerz zu lindern. An einem Ende des Saals war über die gesamte Breite ein Tresen aufgebaut, der aus alten Möbeln, Windschutzscheiben und Computerschrott bestand, im Grunde todschick. Dahinter und davor standen Leute, die sich gegenseitig zu bedienen schienen. Das Gewirr der Stimmen und die technokratische
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