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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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einst die Nase gewesen war. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich hätte es auch nicht für möglich gehalten, wie rasch ein Gesicht unter Fausthieben alle menschlichen Züge verlieren konnte, bis es nur noch einem in die Tiefe ziehenden schmutzigroten Wirbel glich.
    Es kam mir aber nicht in den Sinn, Heinz davon abzuhalten, sondern ich sah nach Frau K. und Keßler. Doch da war nichts mehr zu machen, so viel verstand auch ich von Leben und Tod. Während ich der Russin ins Einschussloch blickte wie in ein drittes Auge, vernahm ich ein Geräusch, das anders war als das Stakkato von Neupers Schlagfolge. Hinter mir schloss sich die Lifttür, die bisher von einem Koffer blockiert gewesen war. Der zweite Mann hatte sich aus seiner Lähmung gelöst und war in den Aufzug geflohen. Ich hörte noch, wie er in irgendein Gerät hineinbrüllte, sie bräuchten Verstärkung. Der Aufzug setzte sich in Bewegung. Er selbst fuhr nun abwärts und würde wohl noch lange Zeit mit großer Dankbarkeit sein Gesicht im Spiegel betrachten.
    Ich griff dem Boxer auf die Schulter. Seine verschmierte Schlaghand donnerte noch einmal in den Fleischstrudel, dann blickte er mich an, als würde er mich nicht erkennen.
    »Wir müssen weg von hier«, sagte ich, »die zwei sind nicht allein.«
    »Natalja?«
    »Es tut mir leid.«
    »Was tut Ihnen leid?«
    Heinz ließ von seinem Opfer ab, das uhrzeigerartig zur Seite fiel, packte mich, ließ aber gleich wieder los. Auf meinem weißen Nachthemd prangte der blutige Abdruck seiner Hand wie eine große rote Blüte.
    Heinz Neuper kniete neben seiner Frau nieder, küsste sie auf den Mund. Als er sich erhob, streckte er die Hand aus, sodass ich in Erwartung einer Attacke zusammenzuckte. Er griff jedoch nach meinem Oberarm und schob mich von den drei Leichen weg.
    »Wir werden das zusammen erledigen«, sagte er, während wir bereits den Gang entlangliefen, was auch immer er mit »erledigen« meinte. Neuper kannte sein Hospital. Er dirigierte mich durch Abstellräume, die uns zu einer Nebentreppe führten, welche wir hinunterrannten. Ungehindert erreichten wir den Ausgang, der jedoch von zwei Männern bewacht wurde, auch diese proper und bewaffnet, aber auch sie eine entscheidende Spur zu lässig und zu langsam. Denn Heinz Neuper hielt jene Pistole in seiner Hand, die er dem Mann weggenommen hatte, dessen Gesicht niemand mehr zusammenzuflicken brauchte. Und er verstand es, dieses lebensfeindliche und lebenserhaltende Instrument zu benutzen. Er schoss auf die beiden, so wie man rasch mit dem Finger auf zwei Leute zeigt und sagt: »Du und du!« Sie gehorchten und brachen ordnungsgemäß zusammen.
    Draußen empfing uns die Nacht mit ebenso ordnungsgemäßer Kälte und leichtem Schneefall. Unterhalb des Saums meines Nachthemds glänzten feucht meine dünnen Beine. Immerhin, ich trug Laufschuhe. Was kein Zufall war. Beinahe mein Leben lang hatte ich Sportschuhe getragen. Nicht weil ich die Dinger so schön fand. Aber ich hatte seit jeher geahnt und befürchtet, dass ich mal in eine Situation geraten würde, in der praktisch gekleidete Füße von Vorteil wären. Immer wieder hatte ich meine Laufschuhe betrachtet und mir gedacht: hässlich, aber praktisch.
    Wir pressten unsere Rücken gegen die Hauswand. Am anderen Ende des Gebäudes, dort, wo der Weg hinunter zur Ausfahrt führte, waren mehrere Gestalten zu erkennen, Männer in Anzügen. Der Verdacht lag nahe, dass es sich um weitere Mitarbeiter von »Sans Bornes« handelte. Auch ein zweiter Ausgang war besetzt. Ein erstaunlicher Aufwand wurde hier betrieben. Selbst wenn Keßler erfolgreich gewesen wäre, mich also erschossen hätte, er hätte diese Nacht kaum überlebt. »Sans Bornes« war nicht die Firma, die mit Leib und Seele an ihren Mitarbeitern hing.
    Heinz atmete durch. Dann versetzte er mir einen Stoß, und ich stolperte in die Dunkelheit. Einen Moment war ich wie betäubt. Plötzlich spürte ich, wie jemand nach meinem Arm griff. Aus und vorbei, dachte ich und war voller Hass gegen mein Leben, das nun zu Ende gehen würde. Aber es war Heinz, der mich gepackt hatte, um mich durch die Nacht zu dirigieren. Wie es schien, hatte niemand uns bemerkt. Zwischen einem fabrikartigen Schornstein und dem Verwaltungsgebäude bewegten wir uns vom Hauptgebäude weg, schlichen durch eine Parkanlage und erreichten in geduckter Haltung den rückwärtigen Teil der Psychiatrischen Klinik. Im Lichtschein einer schmalen Pforte herrschte ein Wintermärchen. Der Schnee kreiselte wie

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