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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Flitter zu Boden. Vor dem Eingang stand eine gewaltige Person. Sie war bunt und barfüßig. Es war dieselbe wunderbar voluminöse Dame, die mir durch ihr Auftreten das Leben gerettet hatte. Und sie empfing uns mit dem gleichen gesichtsfüllenden Grinsen.
    »Rosenkohlrösle, dich mag ich«, sagte sie, wies auf mich und zeigte dabei ihre prächtigen weißen Zähne, was so gar nicht in meine Vorstellung von Psychiatrie passte. Mit einer merkwürdig eleganten Bewegung – ein Koloss in der Schwerelosigkeit – öffnete sie die Tür und wies uns an, ihr zu folgen. Ein Bürschlein von einem Pfleger trat im Vorraum auf uns zu, wollte wissen, was wir hier zu suchen hätten.
    »Friederich, geh schlafen«, befahl die Dame und strich ihm über das glatte, lange Haar.
    »Aber Gerda…«
    »Nix. Aber dich drücken ja schon die Schlafläus’. Sei brav.«
    Der junge Mann resignierte augenblicklich und verzog sich. Übrigens sah er wirklich müde aus. Und seine Aufsichtspflicht konnte er ruhigen Gewissens vernachlässigen. Denn obwohl auf den Gängen und in den offenen Räumen noch einiges los war, konnte von einem Tollhaus nicht die Rede sein. Hier herrschte ein kultivierter nächtlicher Be-trieb: Kartenrunden, Schachspieler, Paare in durchaus sittlicher Weise zärtelnd, einige Personen, die Zigaretten rauchend vor sich hin dämmerten. In einem einzigen Zimmer wurde gezankt. Gerda schloss die Tür mit einem Ausdruck der Verachtung. Führte uns in einen Raum, der aussah, als gehörte er dem Chef der Abteilung. Eine Einrichtung, die Offenheit suggerierte. Die mächtige Bücherwand war wie der Personalausweis eines smarten Intelligenzlers. An den Wänden hing zustandsgebundene Kunst, wie man sie sich erwarten darf, also scheinbar ungebunden.
    Gerda drängte uns, Platz zu nehmen. Dann schob sie sich hinter den Schreibtisch und hob den Hörer ab, wählte eine zweistellige Nummer und gab in harschem Tonfall die Anweisung, zwei Tassen Kaffee und Cognac heraufzubringen, zudem einen bequemen Herrenanzug – sie taxierte mich kurz mit liebevollem Blick – Größe 50. Nachdem sie aufgelegt hatte, bot sie uns Zigaretten an und versicherte, dass wir hier gut aufgehoben seien. Sie selbst müsse weiter, den Überblick behalten.
    »Ade, Rösle.« Sie zwinkerte mir zu und trieb mit einer sparsamen Bewegung aus dem Büro, als hätte sie eine ideale Strömung erwischt.
    »Ihre Freundin?«, fragte Heinz mit der Stimme eines Verschütteten.
    »Mein Schutzengel«, gab ich zur Antwort.
    Diese Bemerkung holte den Boxer an die Oberfläche zurück. Er schrie: »Schutzengel! Ach, so ist das. Großartig! Wunderbar! Wie schön für Sie, dass Sie einen Schutzengel haben. Aber mein Schutzengel…vielleicht ist Ihnen das noch nicht aufgefallen, mein Schutzengel ist tot. Meine Natalja. Sie war ein Schatz. Das Beste, was mir in meinem verhunzten Leben passiert ist. Und dann kommen Sie daher und ziehen uns da hinein. Ich sollte Sie…«
    Er setzte sich, schluchzte. Ich legte ihm meine gesunde Hand wie ein Bußwerk auf die Schulter. Er ließ es geschehen. Nach einer Weile begann er wieder zu reden, wie jemand, der gezwungen ist zu schwimmen, weil er nicht zu ertrinken vermag.
    »Natalja hat mir erzählt, was für ein netter Kerl Sie sind. Na, großartig. Lass die Finger von dem, hab ich ihr gesagt. Da hat sie mich beschimpft. Ich soll nicht dumm sein mit meiner Eifersucht. Als wäre das meine Angst gewesen. Diese Frau war treu. So was gibt’s gar nicht mehr. Bloß noch bei den Russen. Früher war ich gegen die Russen. Jetzt weiß ich es besser. Das sind noch Menschen. Keine Ratten wie hier überall. Ich hab sogar versucht, Russisch zu lernen. Dabei war ich immer gegen den Kommunismus. Für uns Deutsche ist das nichts. Aber ich denke mir, den Russen geht der Kommunismus ab, weil das ihre Erfindung ist, auch wenn das nicht stimmt. Und was geht uns Deutschen ab? Nichts. Nicht einmal der Hitler. Den verraten sogar die Neonazis. Der Deutsche ist untreu. Und der Schwabe ist noch untreuer als die Deutschen.«
    Vielleicht hatte er recht. Auch indem er auf diese Weise zwischen Schwaben und Deutschen unterschied. Und indem er mich beschimpfte. Ich fühlte mich elend. Gern hätte ich mein Leben für das der Frau K. gegeben. Als ich das dachte, meinte ich, jemand im Raum würde den Kopf schütteln, mehr amüsiert als verächtlich. Heinz Neuper war es nicht. Dieser schlug mit der Faust auf den Tisch, nannte die Schwaben charakterlos und zeigte mit wilden Fingerstößen auf

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