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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Musik aus zwei mächtigen Lautsprechertürmen vermengten sich mit dem Gebell der vielen Hunde. Der Gestank war unerträglich, aber bloß eine halbe Minute. Auch Gestank ist ja eine Frage des Standpunkts. Mitten im Gestank stinkt es nicht.
    Heinz fragte Fisch, wo wir uns befinden würden.
    »Unter Stammheim.«
    Nun, das wussten wir auch, dass wir uns in Stammheim aufhielten und diese Anlage hier unterirdisch lag. Aber Fisch hatte etwas anderes gemeint und wurde nun deutlich: Er spreche vom Gefängnis Stammheim.
    »Das ist nicht dein Ernst«, sagte ich, überzeugt, wir hätten uns von der Anstalt wegbewegt, natürlich, wohin auch sonst.
    Fisch lachte. »Gibt’s einen besseren Platz? Einen, der sicherer ist? Für Leute wie uns? Für Bullenampeln? Wir warten nicht, bis der Vollzug zu uns kommt, wir machen es uns unter ihm gemütlich. Wir leben mit dem Gesetz. Marschieren einfach rein. Das Gesetz ist in Ordnung. Natürlich muss man hin und wieder raus auf die Straße, um sich was einzufangen, gehört zum Leben, was in die Fresse kriegen, gute Sachen, schlechte Sachen. Wenn dir aber die Kacke richtig in die Hose schießt, dann zurück nach Stammheim.«
    Der Raum lag genau unterhalb jener Mehrzweckhalle, in der die Prozesse gegen Baader-Meinhof stattgefunden hatten. Es war nicht ganz klar, wozu er ursprünglich gedient hatte. Nun, als Turnhalle natürlich. Aber wer soll dort geturnt haben? Andererseits: Wenn gebaut wird, dann ordentlich, schon der Honorare und Erträge wegen. Doch schien die Verwaltung vom Wert dieser dem Sport dienenden Anlage nicht überzeugt gewesen zu sein; irgendwann hatte sie die Aufgänge von der Turnhalle zum Prozessgebäude zumauern lassen. Wer nun so frech gewesen war, vom Keller des benachbarten Wohnhauses einen Tunnel zu graben – und wann –, ist völlig unklar. Eine geplante Befreiungsaktion? Eine geplante gefälschte Befreiungsaktion? Das schlichte Missverständnis einer Baufirma? Moderne Archäologie? Ein verwirrter Mieter? Wie auch immer, vor einigen Jahren war Fisch mit ein paar Freunden in eines der Zeilenhäuser eingedrungen, das zu dieser Zeit leer stand. Die Jungs waren ganz irre bei dem Gedanken, so nahe der verhassten Anstalt eine Hausbesetzung vorzunehmen. Sie waren mit der Abwärtsbewegung ihrer Besoffenheit sofort in den Keller geraten, hatten den Stollen entdeckt und an dessen Ende die gymnastische Einrichtung, die – der Zumauerung zum Trotz – noch immer über eine funktionierende Heizung, Licht, Warmwasser in den Duschen und intakte Toiletten verfügte. Die Turnhalle hing wie mit einer Nabelschnur am Leib der Mutter, deren Desinteresse nichts an den biologischen Zwängen ihrer Mutterschaft änderte.
    »Das Gesetz sorgt für uns«, sagte Fisch. »Als Schüler musste ich mal Kafkas Vor dem Gesetz lesen. Bourgeoise Scheiße, fand ich. Beamtenliteratur. Aber als ich dann in dieser Halle stand – und ich hab sofort begriffen, wo genau ich da war –, da hat’s gefunkt. Das war mal was anderes als draußen stehen und auf den verdammten Knast glotzen und dem Baader eine Träne nachweinen und den Wächtern die Syph ins Hirn wünschen und von Farbbeutelaktionen träumen. Ich hab ihn verstanden, den Herrn Kafka. Es stimmt schon. Man muss ins Gesetz rein. Dann hast du deinen Frieden. Schau dir diesen Haufen hier an, Asoziale, Junkies, Anarchos, auch ein paar schwere Jungs. Bestens aufgehoben im Bauch von Stammheim.«
    »Klingt nach Religion«, sagte ich.
    »Es ist wie Religion, von der nichts anderes übrig geblieben ist als ein schönes, gemütliches Pfarrhaus.«
    Erik trottete in Richtung Tresen, während Fisch uns an den am Boden liegenden Gestalten vorbei in einen Nebenraum führte, in dem Turngeräte und Bälle lagerten, aber auch zwei Kühlschränke, eine Gefriertruhe und eine Mikrowelle. Hier war es noch wärmer als in der Halle. Dennoch schien der Mann, der Bötsch war, zu frieren, trotz Mantel. Derselbe Mantel, den er getragen hatte, als ich ihn unbedingt hatte retten müssen. Er saß einer jungen Frau gegenüber, einem fleischigen, grell geschminkten Ding, das sich wild am Hals kratzte. Warum sie sich nicht die Fingernägel schnitt, war mir ein Rätsel. Allergie ist eine Sache, lange Fingernägel eine andere. Ihr Hals sah aus, als hätte ihn jemand mit einem Spargelmesser bearbeitet. Aber Schach schien sie zu beherrschen. Denn auch hier wurde gespielt. Weltschachtag? Wenn ja, schien es kein guter Tag für den Professor zu sein, denn seine Stellung war aussichtslos.

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