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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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auch, weil es noch immer von den Russen und den Russlandstämmigen dominiert wird. Die Russen stecken im Schach wie in einer permanenten Revolution.
    Wahrscheinlich aber bildete ich mir das nur ein. Nicht das Turnier, das nicht. Aber die Anwesenheit großer und größter Meister. Unmöglich, dass mir die Tage und Wochen zuvor die Nachricht entgangen sein sollte, die zwei führenden Spieler der Welt würden endlich wieder aufeinandertreffen. Noch dazu in Stuttgart.
    Heinz schob mich durch die Menge der Kiebitze auf eine Tür zu, hinter der wir in einen kleineren, mit nur wenigen Schachbrettern ausgestatteten Raum gelangten. In einer von den Spielern entfernten Ecke stellte Heinz mich einem jungen Mann vor, der sich Fisch nannte und zu dessen Füßen etwas saß, das ein Hund sein konnte, aber eigentlich wie ein Stapel ziemlich alter und nachlässig aufeinandergeschichteter Putzlappen aussah. Fisch war offenbar ein Punker. Als Vierzigjähriger tue ich mich schwer, diesbezüglich zu differenzieren. Von den Schuhen bis zum Hemdkragen erinnerte er mich eher an einen leicht verwahrlosten Angehörigen der deutschen Bundeswehr, aber sein Kopf bestach durch kunstvoll zerzaustes, in einem hellen Orangerot gehaltenes Haar. Allerdings hatte er kein Metall im Gesicht. Den einzigen Ring, einen goldenen, trug er am Ringfinger. Was doch ein wenig provokant wirkte. Jetzt erkannte ich auch, dass er kein Junge mehr war. Die tiefen Furchen um seinen Mund waren echt. Möglicherweise trug er den Ring genau dort, wo seine Frau ihn haben wollte, den Ring.
    »Wir haben Bötsch«, sagte Fisch.
    »Und wir haben kein Geld«, gab ich zurück.
    »Robert, wart doch mal«, sagte Heinz und bremste mich ein, indem er erklärte, dass es hier nicht um Geld gehe. Er wusste bereits Bescheid, denn Gerda hatte ihn frühmorgens geweckt, um ihn mit dem Punker Fisch bekannt zu machen.
    »Dich wollte sie noch schlafen lassen, ihr geliebtes Rösle«, sagte Heinz vorwurfsvoll.
    »Dafür kann ich nichts«, verteidigte ich mich.
    Fisch unterbrach uns. »Bötsch will mit euch reden.«
    »Wozu?«, wollte ich wissen. Eine lächerliche Frage.
    »Geht mich nichts an. Wir halten den alten Mann versteckt. Muss so sein, sind es ihm schuldig. Und weil er sich das sehnlichst wünscht, habe ich euch beide aufgetrieben. Er will euch sprechen. Der Rest interessiert mich nicht. Der Rest riecht schlecht. Riecht nach Bullen. Bullen sind im Grunde in Ordnung. Aber mit meinen roten Haaren sehe ich wie ’ne Bullenampel aus. Versteht sich, dass die keine Ampel wollen, die ihnen im Weg steht. Das ist Natur. Begreift ihr das?«
    »Leuchtet mir ein«, sagte ich.
    Fisch nickte. Genau genommen nickte er seinem Hund zu, der sich erhob und streckte. Er öffnete sein Maul, gähnte. Fisch stellte uns den Hund vor, mit einer Ernsthaftigkeit, die etwas sehr Bürgerliches besaß (indem er die Intelligenz dieses seines Hundes herausstrich). Majakowski hieß er. Schon wieder ein Russe, dachte ich.
    Als wir zurück in den Turniersaal kamen, hatten sich sämtliche Menschentrauben zu einem gewaltigen Kranz verdichtet. Unmöglich zu erkennen, welche zwei Spieler in der Mitte dieses Gebindes saßen. Allerdings löste sich jetzt eine Gestalt aus der Menge. Es war Gerda, auffälligerweise in reines Schwarz gekleidet, beschuht, feierlich, eine Dame auf dem Höhepunkt schwergewichtiger Damenhaftigkeit. Sie gab mir einen Kuss auf den Mund. Was mir das Gefühl gab, gezwungen zu sein, ein Glas Wein in einem Zug auszutrinken. Es gibt Schlimmeres.
    »Der Russe wird gewinnen«, sagte sie und stieß mich zärtlich an.
    »Welcher von den Russen?«, fragte ich. Doch da hatte sich Gerda bereits wieder entfernt und war wie ein fehlendes Stück in den Kranz aus Menschen zurückgekehrt.
    Über einen Personalausgang verließen wir das Gelände des Krankenhauses. Draußen wartete ein weiterer Punker auf uns, eine mächtige Gestalt, so eine Art linksradikaler Diskuswerfer. Das Symbol, das aus seinen kurzen, hellgelben Haaren herausgeschoren war, kannte ich nicht. Am Rand seiner Brauen steckten je zwei silberne Ringe, wie um die dunkle Färbung der Haut unter seinen Augen auszugleichen. Sein verschmutzter Overall hing ihm in Fetzen herab. Darunter war aber sehr deutlich eine makellose, reinweiße Funktionsunterwäsche zu erkennen. Zudem trug er erstklassige Laufschuhe. Was ich nicht deshalb erwähne, um das Widersprüchliche eines solchen Menschen hervorzuheben, sondern viel eher seinen Verstand. Nichts gegen Ornamente,

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