Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
seitlichen Komplexes, in welchem ich Bötsch vermutete. Hinter der äußersten, über viele Meter verlaufenden Fensterfront befanden sich drei Männer. Von der vierten Person, die offenbar saß, war nur der Schopf zu sehen. Einer der Männer war äußerst erregt, ging auf und ab und schlug mit dem Finger Löcher in die Luft. Aber ich nahm nicht an, dass er wirklich etwas zu sagen hatte, denn er wirkte nicht streng, sondern verzweifelt.
Diesem Raum waren zwei andere vorgelagert. In dem entfernteren saßen Frau und Herr Leibwächter samt ihrem Köter. Das Zimmer dazwischen schien menschenleer. Was ich nicht glauben konnte. Und auch nicht glauben musste. Denn wie in einem Kasperltheater tauchte nun Bötschs Kopf auf. Vielleicht war er gesessen. Oder gar über den Boden gekrochen. Wozu auch immer. Auf jeden Fall zog er einen Gegenstand aus der Tasche. Ich konnte nicht erkennen, was es war. Aber in meiner berufsbedingten Beschränktheit vermutete ich eine Waffe.
Ich war voreilig gewesen. Bötsch mochte nicht ganz bei Trost sein, aber Tötungen waren weder sein Hobby noch sein Beruf, noch fühlte er sich zu Derartigem verpflichtet. Jetzt, da er mit Vorsicht einen Nagel in die Wand – nein, eben nicht schlug, sondern mit dem Daumen hineindrückte, und den mitgebrachten Gegenstand daran hängte, erkannte ich, dass es keine Pistole war, sondern ein Objekt, welches diese Wand bereits in dreifacher Ausfertigung schmückte: ein etwa fünfzehn Zentimeter hoher Putto, ein hölzernes Knäblein mit roten Wangen, Babyspeck, einem gelben Tuch, das sein Geschlecht halb verdeckte, und den obligaten Flügeln. Der von Bötsch angebrachte Engel passte ausgezeichnet. Erst jetzt schien die Figurengruppe vollständig zu sein. Man konnte meinen, Zeuge einer Rückführung von Diebesgut zu sein. Vielleicht war es auch so. Doch mein Instinkt und meine kürzliche Erfahrung mit Bötsch sagten mir, dass es hier um etwas weit Absurderes ging.
Der Parasitologe trat von der Wand zurück und neigte den Kopf überlegend nach beiden Seiten, bevor er mit einer bejahenden Geste seine Arbeit freigab und sich entfernen wollte. Er machte einen Schritt auf den Vorraum zu, in welchem das Security-Pärchen saß, an dem er schließlich wieder vorbeimusste. Doch mit einem Mal hielt er inne, wandte sich um. Er musste etwas vernommen haben, das ihn veranlasste, auf die andere Seite zuzusteuern, dorthin, wo sich der Konferenzraum befand, in dem die vier Männer sich besprachen. Bötsch stellte sich an die Tür und presste ein Ohr gegen die Fläche. Ich konnte sein Gesicht sehen. Was er zu hören bekam, veränderte seine Züge. Er schien tatsächlich überrascht. Mehr als das. Bestürzt.
Also schob ich meinen Feldstecher wieder in die Richtung des Besprechungszimmers. Der Sitzende war aufgestanden. Er war etwas älter als die anderen, mochte knapp über sechzig sein. Aber sein Haar war voll und schwarz; was sein Äußeres betraf, war sein Haar das Beste an ihm. So gesehen war er ein Gegenstück zu Frau Holdenried. Ich wusste, wer dieser Mann war: Max Köpple, eine der symbolträchtigsten Erscheinungen der deutschen Gegenwart, sowohl Unternehmer als auch Gewerkschafter, der in beiden Bereichen als beinhart galt, wobei die Ansichten auseinandergingen, ob Köpple ein Kapitalist war, der sich in die Führungsebene der Arbeitnehmervertretung gemogelt hatte, oder umgekehrt. Tatsächlich erschien seine Karriere als eine Art undurchschaubare »Parallelaktion«. Er sah keinen Widerspruch in seinen Tätigkeiten, da er vorgab, abseits des Ideologischen zu stehen und Interessen zu vertreten, nicht weil er sie für richtig hielt, sondern weil das richtige Vertreten von Interessen seinen Begabungen entsprach. Solche Offenheit wurde neuerdings geschätzt. Was ich an ihm schätzte, ohne ihm persönlich begegnet zu sein, war die Höhe des Honorars, das er mir bezahlte, um Frau Holdenried zu beseitigen. Manche Kunden boten lächerliche Beträge an, andere übertrieben es so sehr, dass man sich genierte oder irgendetwas Dubioses vermutete. Die Summe, die Köpple offeriert hatte, zeigte jedenfalls, dass er wusste, wen er wofür bezahlte. Natürlich hatte ich ausschließlich mit Geislhöringer verhandelt, dem gemütlichen Sekretär, der es nicht gewagt hatte, den Namen seines Chefs auch nur in den Mund zu nehmen. Woher ich dann wusste, wer hinter dem Bayern stand? Nun, ich hatte überprüfen lassen, für wen Geislhöringer arbeitete. Das war kein großes Geheimnis. Wie gesagt, bin ich
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