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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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eine Art Vertrag unterschrieben. Die Deutschen würden mich bei meiner Unterschrift nehmen. Das Schriftliche ist ihnen heilig, an und für sich. Ich beschloss also, vorsichtig zu sein. Das ist natürlich die alte Ausrede, wenn man nicht weiterweiß. Das ist wie in den Krieg ziehen und sagen: Wenn der Gegner mit Granaten schmeißt, werd ich mich halt ducken.
    »Es bleibt dabei«, sagte Geislhöringer, »nächsten Sonntag, vier Uhr früh. Und wir werden dafür sorgen, dass Bötsch Ruhe gibt.«
    »Wie soll ich das verstehen? Wollen Sie mit ihm reden?«
    »Ich bitte Sie. Bötsch ist Professor am Zoologischen Institut. Mit so jemandem kann man nicht reden. Aber lassen Sie das unsere Sache sein.«
    Er reichte mir die Hand. »Also, wir werden uns nicht mehr sehen. Viel Erfolg. Auch für Ihre Bibel. Mir scheint, die Leute reißen sich darum. Die alte Geschichte – auf den Verkäufer kommt es an.«
    Als er gegangen war, stellte ich mein Glas ab und öffnete ein Fenster. Die kalte Luft tat gut, doch der klare Kopf half mir auch nicht weiter. Also beschloss ich, zurück in die Stadt zu fahren und eine Kneipe aufzusuchen, wo ich meinem Freund Schlehengeist begegnen würde.
    Am Tag darauf hatte ich weniger zu tun als erwartet. Die meisten Termine wurden abgesagt. Des Schneefalls wegen. Das Geschäftsleben war wie eines von diesen Abfahrtsrennen, die ständig von einer Stunde auf die nächste verlegt werden. Gewissermaßen schneite es auch in meinem Kopf: Eissternchen tapezierten die Innenseite meiner Schädeldecke. Ich empfand weniger einen Schmerz als eine Benommenheit.
    Erst im Laufe des Dienstags sollte sich das Wetter bessern, sozusagen, denn es ist kaum als Besserung zu bezeichnen, wenn die Piste freigegeben wird und alle auf einmal losfahren. In meinem Fall hieß das, dass ich mich mit einigen Leuten der Marke Borowski treffen musste. Wobei ich Borowski gegenüber nicht undankbar sein durfte. Er rührte kräftig die Werbetrommel. Und am Ende dieser Woche hatte ich weit mehr Bibelbestellungen, als ich für diese Stadt erwartet hatte, deren Bewohner in dem Ruf stehen, nur deshalb kleine Plastikstücke in die Vorrichtungen der Einkaufswägen zu schieben, da ihnen das – wenn auch kurzfristige – Verschwinden eines Einmarkstückes zu sehr zu Herzen gehen würde. Das ist natürlich eine dumme Übertreibung. Warum sollten Schwaben sparsamer und kleinlicher und zwanghafter sein als andere Menschen? Nichts gegen Vorurteile, aber das des geizigen Schwaben hielt ich für einen Propagandatrick, und zwar einen schwäbischen. Wenngleich es mich irritierte, dass ich unentwegt um Schnäuztücher gebeten wurde, welche dann unbenutzt in den Taschen der Bittsteller verschwanden. War es möglich, dass die Stuttgarter Taschentücher horteten?
    Doch noch am Montagnachmittag war ich gezwungen, aus dem Hotel zu treten. Denn ein Termin war unumgänglich. Ich bewegte mich durch den Schnee, der hier, am Boden des Kessels, nichts Romantisches, nichts Liedhaftes mehr besaß. Weißer Abfall. Weiß mit ersten Flecken.
    Trotz der Kühle kam ich ins Schwitzen. Ich gelangte in den Osten der Stadt, wo ich einen Hang hinaufstieg. An sich ist mir der Schritt bergauf verhasst. Aber ich wollte mir einen Überblick verschaffen, den Turm und seinen Stern aus der Ferne betrachten. Doch im Schneetreiben, das nun wie-der einsetzte, war nicht viel zu erkennen. Eingedenk der verschwommenen Sicht sowie meiner Atemlosigkeit und der Nässe in meinen Schuhen empfand ich für einen Moment ein umfassendes Gefühl der Sinnlosigkeit.
    Ich machte einen großen Bogen und erreichte über die Uhlandstraße jenes ehemals königliche Palais, in dem nun mittels einer städtischen Bücherei der Kampf um den Geist der Masse geführt wurde. In dem weiten, hohen Untergeschoss herrschte reger Betrieb. Hier lagerten diverse Zeitungen des In- und Auslandes. Hier lagerte Heizungswärme. Wie in anderen Städten auch war das Foyer dieser Bücherei Ziel der Einsamen und Obdachlosen, der Gierigen, die niemals kauften, was sie umsonst bekamen, sowie der Eiferer, die ihre Wut über den Journalismus in die Öffentlichkeit tragen wollten.
    Ich stellte mich an eine Art Theke, die den Leuten dazu diente, ihre Zeitungen auszubreiten. Und entfaltete meinerseits ein Exemplar, und zwar, wie vereinbart, die Neue Zürcher Zeitung . Ich schlug die Todesanzeigen auf, die ja weniger den Tod als eine gewisse Pracht des Lebens und die Pracht der Hinterbliebenen anzeigen und in ihrer Gesamtheit das Flair

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