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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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erklärte.
    Meine wirkliche Domäne ist die Geduld. Ich wiege an die hundert Kilo und meide deshalb unnötige Anstrengungen. Da bietet es sich an, geduldig zu sein. Während ich so tat, als interessierte mich Borowskis Kampf für die ökumenische Bewegung, fiel mein Blick auf einen Mann, dessen Hand soeben mit einer glatten, unauffälligen Bewegung aus einer fremden Jacketttasche glitt. Offensichtlich ein Taschendieb. Was mich nicht störte. Jeder muss sein Auskommen finden. Und selbstverständlich beeindruckt mich das handwerkliche Vermögen einiger dieser Leute. Es ist, als bewegten sie sich leichtfüßig und mit schwimmenden Fingern durch jene zähe Masse, in der ihre Opfer hilflos stecken. Der hier war ein Künstler. Ein dünner, ältlicher Typ, hart an der Grenze zur Karikatur eines Jahrhundertwendegrafen. Wozu das leichte Auswärtsschielen eines seiner Augen passte, eine angeborene Extravaganz. Der Mann wirkte auf eine sportive Weise kränklich. Auf eine gesunde Weise tuberkulös.
    Ich bewegte mich mit ihm, wahrte Distanz, während der Berufskatholik Borowski wie ein Pilotfisch an mir klebte. Wieder sah ich, wie die Hand in eine fremde Tasche tauchte und dort eine ganze Weile verblieb. Währenddessen plauderte der Dieb mit seinem Opfer. Die Herren lachten, und indem der Dieb sich vor Lachen nach hinten bog, fuhr seine Hand mit einer völlig natürlichen Bewegung aus dem eigentlichen Tatort heraus. Perfekt, dachte ich. Was mich jedoch irritierte, war der Eindruck von etwas Verkehrtem, das ich noch nicht benennen konnte.
    »Kennen Sie den Mann?«, fragte ich Borowski, der mich verwundert anschaute. Er hatte eben über den heiligen Augustinus referiert. Und verstand erst, als ich hinüber auf die dürre Gestalt wies und vorgab, mir käme dieser Mann bekannt vor.
    »Ach, das ist der Bötsch«, sagte Borowski, der auch gleich erklärte, er halte Bötsch für überschätzt. Und könne nicht verstehen, dass der jetzt sogar einen hohen wissenschaftlichen Orden erhalten solle, bloß weil er irgendetwas über einen Wurm herausgefunden habe.
    »Was für einen Wurm?«, wollte ich wissen.
    »Der Bötsch hat es mit Schmarotzern. Forscht über Bandwürmer und so.«
    »Interessant.«
    »Wenn Sie meinen«, sagte Borowski ein wenig beleidigt, besaß aber die Freundlichkeit, mich Herrn Bötsch vorzustellen und auch gleich zu erklären, woher ich kam und was ich in Stuttgart trieb.
    »Gegen eine afrikanische Bibel ist nichts zu sagen«, erklärte Bötsch von oben herab. Er war mindestens einen halben Kopf größer als wir alle.
    Dann umfasste er meine Schulter, als wären wir alte Freunde, spielte den leicht Betrunkenen und warnte mich vor dem Büfett. Zubereitet vom besten Restaurant der Stadt. Aber was bedeute das schon. »Alles verseucht«, meinte Bötsch und erwähnte eine inoffizielle Statistik seines Instituts über die Zahl der jährlichen Lebensmittelvergiftungen nach Restaurantbesuchen. »Wenn wir das veröffentlichen dürften, wäre es das Ende der deutschen Gastronomie.«
    Er löste sich wieder von mir, um eine Dame zu begrüßen, die soeben erschienen war und die ich sofort erkannte. Es handelte sich um jene Person, die ich am Ende der kommenden Woche ins Visier nehmen und töten würde. Sie trug die silberne Brosche, die ich auf den Fotos gesehen hatte. Und silbernen Ohrschmuck – ovale Schilde –, sodass es mir unmöglich war, die Divergenz ihrer Ohrläppchen zu überprüfen. Obwohl sie eine von den Frauen war, denen etwas Säuerliches anhaftet, war sie schnell von Herren umringt, die sie durch den Raum leiteten, als wäre sie irgendwie behindert. Die Männer griffen nach ihr, so wie man rasch über die Oberfläche eines Gemäldes streicht. Sie nutzte die Möglichkeit eines Sofas. Die Herren fielen gleich Bomben neben ihr auf das Leder.
    »Kennen Sie die Frau Holdenried?«, fragte Borowski, der meinem Blick gefolgt war.
    »Ja«, sagte ich, denn ich wollte nicht, dass er mir erklärte, wer sie war. Ich brauchte nichts über einen Menschen zu wissen, den ich umbringen würde. Mit der Ausrede, telefonieren zu müssen, ließ ich Borowski stehen, trat in einen Nebenraum, in dem nur wenige Gäste standen, und griff in die Brusttasche meiner Jacke. Denn ich hatte dort, wo meine Geldbörse sich befand, Bötschs Hand gespürt. Aber er hatte nichts gestohlen. Im Gegenteil. Zwischen den Teilen meines Portemonnaies fand ich eine Fotografie, die mit Sicherheit nicht mir gehörte. Ich betrachtete sie ungläubig. Darauf waren

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