Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
Leiche noch nicht aufgefunden worden, oder Köpples Leute hatten den verdienten Parasitologen ins Ausland geschafft, auf welche Weise und in welchem Zustand auch immer. Oder sie ließen sich Zeit, aber das konnte und wollte ich mir nicht vorstellen.
Als ich am Dienstagmorgen die Schlagzeile von einem Pistolenattentat las, welches gleich gegenüber, im Hauptbahnhof verübt worden war, dachte ich natürlich sofort an Bötsch. Aber es schien sich um eine belanglose Schießerei gehandelt zu haben, Großstadttheater, pubertäre Pistoleros. Traurig, dass nicht einmal die Deutschen ihre überspannte Jugend in den Griff bekamen. Der Bezug dieser Kinder zu Schusswaffen ist folgerichtig verspielt und von geringem Können gezeichnet. Selten treffen sie den, den sie treffen wollen. Selten wissen sie überhaupt, wen sie treffen wollen. Auch der Artikelschreiber vermutete, dass es sich bei der zu Tode gekommenen Person, einem unbescholtenen Instrumentenbauer aus Heilbronn, um ein Zufallsopfer handelte. Das galt wohl erst recht für jenen Idioten, der versucht hatte, den Täter von seiner Tat abzuhalten, und dabei einen Durchschuss an der Hand erlitten hatte. Ein Mensch, der zwar als mutig, jedoch auch als Österreicher bezeichnet wurde – nicht ohne Schadenfreude, wie mir schien. Und der nun im Spital lag. Ich kenne die Österreicher nicht. Sieht man davon ab, dass mir am Tag zuvor dieser Chinese begegnet war. Doch die Hand, die er noch besaß, war unbeschadet gewesen.
Was hatte der Täter vorgehabt? Die Zeitung diagnostizierte schlussendlich einen versuchten Raubüberfall und die panikartige Verwendung einer Waffe durch den siebzehnjährigen Griechen. Befragen konnte man ihn nicht mehr. Ein geistesgegenwärtiger Polizist hatte ihn mit einem Schuss in den Rücken erledigt. Immerhin, die meisten Polizisten wissen wenigstens, wen sie treffen wollen. Ob sie auch immer wissen, wo sie jemanden treffen wollen, ist eine andere Frage. Einen kurzen Moment kam ich auf die Idee, dieser Anschlag hatte eigentlich Bötsch gegolten, Bötsch, der ja nicht hatte wissen können, dass er beim Lauschen beobachtet worden war und nun selbst auf der schwarzen Liste stand. Nun, jetzt würde er es wissen. Aber ich verwarf diese Vorstellung. Entweder war Bötsch noch Montag in der Nacht liquidiert worden, oder er hatte es geschafft, sich der Polizei anzuvertrauen. – Ich stockte. Allmächtiger, war ich jetzt völlig närrisch? Sich der Polizei anvertrauen? Kein Mensch in Südafrika würde das tun. Kein Mensch in China. Keiner in Frankreich. Was stellte ich mir unter Deutschland vor? Exekutive und Paradies? Ich legte die Zeitung weg. Ich betete dafür, dass Geislhöringer sein Versprechen halten und das Problem noch vor dem Samstag bereinigen würde. Natürlich betete ich nicht sinnlos zum Himmel hinauf, wo kein Gott sich die Zeit genommen hätte, mir beim Beten zuzusehen. Ich betete nicht vertikal, sondern horizontal, denn das Gebet an sich besitzt eine gewisse Kraft. Das Dumme ist, dass beinahe sämtliche Menschen beten, auch die Ungläubigen. Auf diese Weise beten nicht wenige gegeneinander. Was dann zu einer Auflösung oder Abschwächung der jeweiligen Gebetskraft führt. Dass Gebete also zumeist nicht helfen, ist kein Wunder.
Wogegen auch kein Gebet geholfen hatte: Der Zeitpunkt der geplanten Erschießung kollidierte mit einer meiner Leidenschaften, dem Boxen. Kann man begründen, warum man das Boxen liebt? Versucht haben es eine Menge gescheiter Leute, denn naturgemäß drängt es gerade die Gescheiten, eine Liebe zu erklären beziehungsweise sich dafür zu entschuldigen. Beim Boxen klingt es oft so, als würde einer seine Zuneigung zu einer Prostituierten beschreiben, die er aufrichtig verehrt und mit der er es nicht wirklich treibt, also eigentlich schon, aber eben nicht auf Prostitutionsniveau, sondern auf Gescheite-Leute-Niveau. Grob gesprochen, gibt es – das Boxen betreffend – zwei Freier: den, der das Ursprüngliche erkennt, die Reinheit im Martialischen, den Atavismus als den eigentlichen Zielpunkt der Avantgarde und so weiter. Der andere Typus sieht überall Metaphern: Jeder Schlag, erst recht jeder Niederschlag, steht für etwas ungleich Bedeutenderes, findet aber in diesem Bild, das der Schlag liefert, seinen präzisesten Ausdruck.
Das Aufregende am Boxen ist natürlich sein theatralischer Charakter. Das Drama gleichzeitig als Inszenierung und Wirklichkeit. Blut und Schweiß sind echt. Die zugeschwollenen Augen. Der
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