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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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herausgeschlagene Zahnschutz, der durch den Ring fliegt. Betreuer und Trainer, die wie Kinder in der Ecke stehen, die Hände vors Gesicht halten und auf ein Ende warten, irgendein Ende. Oder auf bessere Zeiten. Oder darauf, dass der andere sich an der Deckung ihres Mannes müde schlägt. Ist ein Kampf erst mehrere Runden alt, kommt es einem nicht selten so vor, als wollten die Kontrahenten nichts anderes als schlafen oder tot sein. Dann, wenn ihre Körper aneinanderkleben, sie sich gegenseitig stützen und recht kraftlose Schläge in die Seite anbringen. Das sind Augenblicke großer Intimität und Ruhe. Wo sonst ist die Erschöpfung derart Teil der Aktion? Andererseits hat man das Gefühl, einer Aufführung beizuwohnen, einem Tanz halb nackter, muskulöser oder auch nur ziemlich fetter Herren, die grimmig dreinblicken und vorgeben, einander zu hassen, und die versuchen, ihrem Kosenamen gerecht zu werden, dem Klischee von Mörder, Bewegungstalent oder Lachnummer, während sie eigentlich nur versuchen, in relativ kurzer Zeit mehr oder weniger viel Geld zu verdienen, ohne dabei allzu schlimme Blessuren davonzutragen.
    Boxen ist sozusagen meine Schwäche für Neger. Der brillante weiße Schwergewichtler ist nicht in den Zwanziger- oder Fünfzigerjahren ausgestorben, zwei Dekaden berühmter weißer Weltmeister. Nein, den brillanten weißen Schwergewichtler hat es nie gegeben. Ich sage das sehr ungern. Ich hätte nichts gegen eine »weiße Hoffnung«, die sich nicht wieder als Flop erweist. Ich kann nicht sagen, woran es liegt. Sicher nicht an den Genen. Die Schwarzen sind keine geborenen Puncher. So wenig wie Schwule fürs Ballett geboren sind. Sollte es wirklich eine Frage der sozialen Verhältnisse sein? Ich kann es nicht glauben. Schließlich verfügt auch das weiße Europa über ein Heer von Jugendlichen, die in der Kriminalität heranwachsen. Was ist bloß mit diesen Kindern? Träumen die alle von einer Karriere als Fußballer oder DJ? Warum sehen weiße Schwergewichtler, selbst wenn sie punkten, immer so verkrampft aus? Was ich an ihnen bemerke, ist nicht unbedingt Angst, es ist ein Unwohlsein, vergleichbar der Scham bigotter Menschen, wenn sie einmal mit nichts anderem als einer Badehose bekleidet sind. Der Augenblick war wohl der, als »The Greatest of ’em all« in die Welt hinausschrie, dass er nicht nur der Größte, sondern auch der Schönste sei. Damit hat die entscheidende Umkehrung der Werte stattgefunden, zumindest in jener fünfundzwanzig bis sechsunddreißig Quadratmeter großen, gut ausgeleuchteten, seilumspannten Welt. Jeder schwarze Champ hält sich seither für schön, jeder weiße Champ für hässlich.
    Das alles ist Unsinn, an den ich nicht glaube. Aber ich kann ihn sehen, den Unsinn. Und sehe ihn mir aus irgendwelchen merkwürdigen Gründen immer wieder gern an.
    Doch darauf würde ich nun verzichten müssen, wenn mein Landsmann, der »weiße Büffel«, auf den »eisernen Mike« traf. Der Büffel (für viele die weiße, hüftspeckige Unschuld, hundertfünfeinhalb Kilo Unschuld) gegen den schwarzen Bad Boy oder wie man ihn sonst noch nannte; der »härteste Mann des Planeten«, titulierte er sich selbst. Eine nette Übertreibung.
    Ungünstigerweise fand der Kampf am Sonntag gegen vier Uhr früh statt, genau dann, wenn ich Frau Holdenried töten würde. Selbst eines von diesen mit Batterien betriebenen liliputanischen Fernsehgeräten hätte nichts genutzt, da man die Übertragung nur mit einem Decoder empfangen konnte. Ich empfand diesen Umstand als überaus bitter. Ich halte wenig davon, mir Aufzeichnungen anzuschauen. Das ist wie zu spät kommen. Das ist wie eine Geschichte, die man hätte miterleben können und nun nacherzählt bekommt.
    Geislhöringer hatte mir nicht verraten, warum das Attentat ausgerechnet zu dieser Unzeit erfolgen sollte und aus welchem Anlass sich Annegrete Holdenried im Gebäude der Landesbank gegenüber dem Hauptbahnhof aufhalten würde.
    Donnerstags, bevor ich mich mit Borowski und einer Dame vom Katholischen Medienzentrum im Hotel Graf Z. zum Abendessen traf, wollte ich mir meinen Arbeitsplatz, meine Jagdkanzel, einmal aus der Nähe ansehen. Ich ging hinüber zum Bahnhof und stieg in den Lift, der den Turm hinauf zur Aussichtsplattform fuhr. Dort herrschte touristischer Großbetrieb. Vornehmlich Belgier. Nur wenige genossen den Blick auf das städtische Lichtermeer, die meisten starrten hinauf zu dem erleuchteten Mercedesstern, der über ihren Köpfen langsam und

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