Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
einer Galerie aus dem 18.Jahrhundert besitzen.
»Der Tod ist die Sauerstoffflasche hinter dem Zieleinlauf«, sagte ein Mann mit langen, grauen, zu einem Zopf zusammengebundenen Haaren. Seine Nasenspitze besaß die Form einer Mirabelle. Sein Gesicht verwies auf ein Leben auf der Straße, doch steckte sein breiter Körper in einem Maßanzug. Er stellte einen länglichen Aluminiumkoffer neben die Neue Zürcher und erklärte, er würde in zehn Minuten wiederkommen. »Sehen Sie sich an, ob das Ding konveniert.«
Ich nahm den Koffer, begab mich auf die Toilette und betrat die einzige Kabine des Toilettenraumes, um den Inhalt zu überprüfen. Der Anblick der in rotem Samt eingebetteten Teile dieser Präzisionswaffe hätte wohl das Herz eines jeden Waffenfreundes höher schlagen lassen. Was ich nicht verstehen kann. Warum sammeln Menschen Waffen? Ich habe nie im Leben auch nur einen Revolver besessen. Ich bestelle die erforderlichen Waffen – stets unbehandelte Markenware aus dem jeweiligen Inland, da Spezialanfertigungen die speziellen Macken der Hersteller einschließen – und lasse sie dorthin liefern, wo sie zum Einsatz kommen. Mache nur eine Ausnahme in Bezug auf das Projektil, da bin ich heikel. Aber ich bin nicht wie ein Fotograf, der eine Lieblingskamera benötigt. Unglaublich, wenn es stimmt, dass einige meiner Kollegen ihre Ausrüstung um die ganze Welt schleppen wie früher Taucher ihre Flaschen.
Ich überprüfte die Bestandteile dieser Birlewanger& Ruth, die Kenner gern als das ehrlichste unter den Gewehren bezeichnen. Überprüfte vor allem die Zieleinrichtung mit Jagd- und Nachtsicht, bei der oft geschlampt wird, da es den meisten Leuten gleichgültig ist, wo genau die Kugel das Opfer trifft und wie oft geschossen werden muss. Fernrohre dienen mehr der voyeuristischen Ader als der Zielgenauigkeit.
Ich setzte das Gewehr zusammen. Stoppte nicht die Zeit. Zeit würde es zur Genüge geben. Die Waffe lag nicht besser oder schlechter in der Hand als eine Bohrmaschine, ein Spazierstock oder ein Feuerhaken. Damit würde es keine Schwierigkeiten geben. Auf das Material kam es ja nicht wirklich an. In den meisten Fällen hätte man die Leute mit Steinschleudern erledigen können. Der Gestank im Toilettenraum machte mir schwer zu schaffen. Ich nahm die Waffe auseinander und legte die Teile zurück in ihre samtenen Schalen. Draußen reichte ich dem Grauhaarigen den Koffer, sagte ihm, dass ich zufrieden sei und er das »Instrument« am kommenden Samstag, kurz vor Schließung der Bücherei, wieder hierher bringen solle.
»Waffen sind wohl Täter «, sagte der Mann vergnügt und verließ das Gebäude durch den Haupteingang.
Sprachkomiker, dachte ich, schlenderte noch ein wenig durch die Bibliothek, durch die Bücheralleen, genoss die Ruhe und Wärme, stieg hinauf zur Belletristik, setzte mich und beobachtete die Lesenden, diese Glücklichen, die gefahrlos durch fremde Leben schritten.
Als ich einem Einarmigen half, einen kleinen Band aus dem obersten Regal zu ziehen – es war Lino da Casias Böse Erinnerungen eines Detektivs und das daraus folgende Handbuch –, kamen wir ins Gespräch. Der Mann war Chinese. Eigentlich war er geborener Österreicher, aber das sah man ihm nun wirklich nicht an. Was man ihm jedoch ansah, war ein gewisser Verschleiß des Körpers. Abgesehen von seinem amputierten Arm wies sein Gesicht mehrere Schrammen auf, und als wir uns zu einem Tisch bewegten, bemerkte ich, dass der Mann hinkte. Außerdem schien er schlecht zu hören. Ich wollte mir nicht vorstellen, womit er sonst noch geschlagen war. Dennoch wirkte er fröhlich, wenngleich ein wenig angetrunken.
Es versteht sich, dass wir nicht über seinen fehlenden Arm sprachen, sondern über Unverfängliches wie die Zukunft des geschriebenen Wortes, zum Beispiel. Nur einmal sagte der Mann etwas Merkwürdiges, indem er behauptete, die Literatur habe sein Leben zerstört. Er erklärte es nicht näher. Ich fragte mich, warum er sich dann ausgerechnet in einer Bücherei aufhielt, nickte aber bloß. Wir hatten einfach nicht die Zeit, uns näher kennenzulernen. Als wir uns verabschiedeten, wünschte ich ihm viel Glück.
Er sagte: »Zu spät.« Sein breites Grinsen war nicht ohne Bitterkeit.
Abends saß ich vor meinem Fernseher und erwartete die Meldung vom Ableben jenes Mannes, der demnächst für die sensationelle Entdeckung einer Parasitenmutation ausgezeichnet werden sollte; so weit war ich bereits informiert. Aber entweder war Bötschs
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