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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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gleichmäßig rotierte wie ein zur Raumsonde mutiertes Kruzifix. So absurd diese Installation wirkte, wenn man sie von der ebenen Erde aus besah, hier oben, beinahe in Griffweite, verfügte sie über jenen fremdartigen Reiz, den eigentlich nur lebendige Wesen ausstrahlen, etwa Orcas hinter riesigen Aquariumscheiben oder Schwärme von Quallen, Leuchtkrebse auf Leinwandgröße, Abessinische Gladiolen. Betörend. Ich hörte einen der Belgier sagen: wie der Stern von Bethlehem. Seine Freunde pflichteten ihm bei. Man sprach leise, wie in einer Kirche.
    Ich schaute über das Bahnhofsgelände hinweg auf ein Bankgebäude, die übliche Geschäftskiste, modern und spießig. Beinahe sämtliche Räume waren erleuchtet, auch der penthouseartige Aufsatz, jener Ort, den mir Geislhöringer als Zielbereich angegeben hatte. Ich setzte meinen Feldstecher an die Augen, in keiner Weise auffallend, ein Belgier unter Belgiern. Die zum Turm weisende Front war vollständig verglast, der Raum sparsam möbliert. Idealerweise fehlten Topfpflanzen und andere den Blick einschränkende Ziergegenstände. Zwei Männer saßen wie Schüler nebeneinander und spiegelten sich auf der polierten Oberfläche des Konferenztisches. Hinter ihnen sah ich eine Uhr, welche falsch ging. Und zwar bedeutend. Und das sind dann die Leute, die mit dem Geld ihrer Kunden spekulieren. Und immer behaupten, in Eile zu sein. Hätte ich mein Gewehr dabeigehabt, ich hätte ihnen je eine Kugel genau durch ihre Krawattenknöpfe schicken können. Die Zielortbedingungen waren ganz passabel. Blieb als unbekannte Größe nur die Stärke und Beschaffenheit des Fensterglases. Nichts Besonderes, hatte Geislhöringer versichert. Doch was waren die Versicherungen des Bayern eigentlich wert? Nun, ich würde ein starkwandiges, für die prämortale Materialdurchdringung geeignetes Geschoss verwenden, welches ein Kapstädter Büchsenmachermeister entwickelt hatte, Erik Sorel, Großwildjäger und Benchrest-Sportschütze. Er wusste von meinem Beruf. Aus irgendeinem Grund nahm er an, dass ich früher vorzugsweise Schwarze erledigt hatte. Das gefiel ihm. Ich ließ ihn in dem Glauben. Denn dadurch war ich privilegiert, gehörte zu den wenigen, die Sorel mit seinen exzellenten Projektilen belieferte. Natürlich transportierte ich die Geschosse nicht im Reisegepäck, sondern bezog sie jeweils über eines der hiesigen Waffen-Angel-Armbrust-Geschäfte, an die Sorel seine Ware zeitgerecht verschickte. Obwohl selbst Profiteur dieser Gepflogenheiten, wird mir angst und bange, wenn ich sehe, wozu Anglergeschäfte sich hergeben. Die bewaffnen jeden, der die Hand heben kann, um zu schwören, was er auch immer schwört.
    Ich schickte einen letzten Blick hinauf zu dem Stern, der ja nicht nur über dieser Stadt stand, sondern gewissermaßen über dem ganzen Erdkreis. (Mercedes ist ja viel mehr als ein Name, der ein Auto bezeichnet. Mercedes, das ist die Metallschraube in unseren Köpfen. Und sicher nicht der Stern in unserem Herzen, wie die Stuttgarter meinen.)
    Es war schon immer so: Ich merke mir keine Gesichter, sondern Einzelheiten, in deren Sogkraft ich mich auch an den Rest zu erinnern beginne. Fünf Leute waren mit mir in den engen Lift gestiegen, der hinunter in die Bahnhofshalle führte. Vier davon unterhielten sich, Belgier, die nicht aufhörten, vom Mercedesstern zu schwärmen. Der Fünfte stand mit dem Rücken zu mir. Nur kurz hatte ich sein Gesicht gesehen. Seine linke Hand war in einen Schal gewickelt. Was ich weniger bemerkenswert fand als den Widerspruch in seiner Visage. Eine kleine Nase, aber große Nasenlöcher, was jedoch nicht negroid wirkte, da das Organ bei aller Kleinheit recht spitz zulief. Ich war überzeugt, diese Nase schon einmal gesehen zu haben, und ich dachte: ein Riecher wie der von Anton Bruckner, ohne dass ich mich so recht an das nasale Antlitz des Komponisten erinnern konnte, aber eben daran, dass Bruckner aus Österreich stammte. Und über diesen gedanklichen Umweg gelangte ich zur Überzeugung, dass der Mann, in dessen Nacken ich atmete, kein Belgier war, sondern Österreicher, und dass ich sein Foto zwei Tage zuvor in einer Stuttgarter Zeitung gesehen hatte. Es war jener merkwürdige Held, der angeschossen worden war. Und zwar an der Hand. Was hatte der Mann hier verloren? Ich mochte nicht glauben, dass jemand, der zu Beginn dieser Woche durch einen Pistolenschuss verletzt worden war, denselben Ort zu touristischen Erkundungen nutzte.
    Er stieg vor mir aus dem Aufzug,

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