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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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bluffen«, sagte er. Und vergaß dabei, sein Ziel im Auge zu behalten. Die Waffe war jetzt auf den Schlehengeist gerichtet.
    »Ich weiß es wirklich nicht«, schwor ich ihm. »Ich frage Sie ja bloß, weil es mich interessiert, nicht weil es mich kümmert. Man hat mich bezahlt, also werde ich das Problem aus der Welt schaffen.«
    »Genau das werde ich verhindern.«
    »Was bedeutet Ihnen diese Holdenried?«
    »Darum geht es nicht.«
    »Ich hoffe, Sie halten sich nicht für einen Moralisten. Was wäre das für eine Moral, das Leben eines Menschen, eines einzigen Menschen zu retten, nur weil man ihn aus der Zeitung kennt. Dabei ist das, was passieren wird, ein ganz normaler und keineswegs unmenschlicher Prozess. Niemand wird gefoltert, keine tausend Arbeitsplätze verschwinden, keine Rentner werden betrogen. Ich versichere Ihnen, wüsste Frau Holdenried von der Sache, sie würde es genauso sehen. Guter Herr Szirba, Sie sollten das Ganze vergessen und nach Hause gehen.«
    Aber selbst wenn er wirklich gegangen wäre, hätte ich es nicht zulassen können. Dieser Mensch war labil, hin- und hergerissen von seinen Überlegungen, wahrscheinlich durch seine Ehe schwer belastet, seine Erfolglosigkeit, die ich bloß ahnte. Aber Leute, die für nichts ihr Leben riskieren, das sind immer die Erfolglosen, die eben auch nichts zu verlieren haben. Courage ist die Domäne der Zukurzgekommenen. Man braucht sich ja nur die Leute anzusehen, die nach Afrika gehen, um zwischen Gewehrsalven Hungernde zu füttern, lauter Versager, zumeist Versager im Privaten, Beziehungsnieten, aber auch berufliche Versager, darunter viele Ärzte, die den sozial-menschenfreundlichen Typus bloß vorschieben, weil es ihnen nicht gelungen ist, in München oder auf Mallorca eine Praxis aufzubauen. Dasselbe gilt für Umweltschutzorganisationen. Ein Hort für gescheiterte Existenzen, welche in ihrer Verzweiflung begonnen haben, sich für den Regenwald oder das Leben der Wale zu engagieren. Worüber ich mich nicht lustig machen möchte. Ich halte die Rettung der Wale für prinzipiell richtig. Die Frage ist nur, warum tut das jemand? – Warum zielt ein Kerl auf mich, während er doch Häuser bauen könnte? Eben, weil er nicht kann , weil er noch keine einzige mickrige Garage gebaut hat und auch nie bauen wird.
    Dieser Mann war ein Risiko. Ich konnte ihn nicht gehen lassen. Ohnedies machte er keine Anstalten. Zielte jetzt auf den Aschenbecher. Ein in Fußtechniken versierter, gelenkiger Mensch hätte keine Mühe gehabt, ihm die Waffe aus der Hand zu treten, ohne dass ein Schuss losgegangen wäre. Meine Domäne ist das nicht. Ich sagte: »Was soll ich bloß mit Ihnen machen?«
    »Das ist meine Frage«, beschwerte sich Szirba, beinahe weinerlich. Es lief nicht so, wie er es sich erwartet hatte. Er richtete die Waffe wieder auf meine Brust, wollte eine Entscheidung. Da hatte er recht, weshalb ich mich erhob.
    »Ich vertrage dieses fette Essen nicht«, erklärte ich und bewegte mich auf die Toilette zu, die im Vorraum gelegen war.
    »Bleiben Sie stehen«, befahl der Österreicher, was seine Wirkung jedoch verfehlte, denn auch wenn er mir ins Gesicht sah, so zielte er noch immer auf die Brust, wo sie sich jetzt aber nicht mehr befand, sondern nur noch die Rückenlehne meines Stuhls. Mit einer schwerfälligen, aber beiläufigen Bewegung, in der so etwas wie die Kraft einer Rückenflosse steckte, schlug ich ihm die Pistole aus der Hand. Die Waffe landete auf dem kleinen Glastisch. Er sprang auf, wollte danach greifen, aber ich war bereits bei ihm und quetschte ihn mit meiner Körpermasse gegen die Wand. Er schwitzte, wie schon die ganze Zeit. Und er roch nach Krankenhaus, roch wie ein Mensch, der es nicht mehr lange macht. Ich würde es auch nicht mehr lange machen. Mir war nämlich tatsächlich übel. Die Krautspätzle drohten im Verdauungskanal die Richtung zu wechseln. Weshalb ich mich beeilte, Szirbas Kopf mit der rechten Hand an der Tapete zu fixieren und einen rechten Aufwärtshaken an seinem Kinn anzubringen, nicht aber mit der Faust, sondern mit dem Ellbogen, da sich an dieser Stelle des Jacketts ein lederner Schutz befand. Ich tat das nicht, um ihn zu schonen, den Österreicher. Aber von seinem Kinn tropfte eine speichelige Masse. Ich schonte meine Hand.
    Szirba sackte zusammen, fiel auf die Knie. Der Kopf sank nach vorn. Ich konnte mit dem Fuß gerade noch verhindern, dass er gegen ein Tischbein schlug. Ich wollte den Mann schließlich nicht umbringen. Niemand

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