Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
Aussichtsplattform, wo der Stern von Stuttgart sich gleichmäßig um die eigene Achse drehte und mir das Licht spendete, das nötig war, um meine Birlewanger&Ruth zusammenzusetzen. Dann postierte ich mich an jener Ecke der Plattform, von der ich auf das Gebäude sah, in welchem die Zielperson sich bereits befand oder bald befinden würde. Ich legte die Waffe auf den Boden und zog meinen Feldstecher aus der Tasche. Mir bot sich ein Bild idealer Bedingungen. In sämtlichen Büros lagerte Schwärze. Nur dort, wo mein Zielort sich befand, war es hell wie in einer Ausstellung. Zwei Räume waren beleuchtet, die Jalousien aufgezogen. Ein weiteres Versprechen also, das Geislhöringer gehalten hatte, denn Jalousien konnten eine wahre Plage sein. In dem rechts gelegenen, kleineren Büro befanden sich zwei Männer. Sie standen mit dem Rücken zu mir vor einem Fernsehgerät. Leibwächter, die im Moment aber weniger an den zu schützenden Leib dachten, der ein Zimmer weiter saß, sondern jener beider Körper harrten, deren Konfrontation in Kürze über den Bildschirm flimmern würde. Mein Herz tat einen Sprung. Denn offensichtlich waren die beiden Wachposten willens, sich den Schwergewichtskampf anzuschauen. Gott sollte diese Jungs schützen, zumindest solange sie mir den Blick auf den Fernseher nicht verstellten. Wenn der Fight bloß ein paar Runden ging, konnten wir alle uns ihn anschauen.
Im vorderen, lang gezogenen Konferenzraum saß eine einzige Person. Sie saß, wie Leute sitzen, die etwas zu bestimmen haben. Sehr, sehr weit zurückgelehnt, wie um einen Blick auf das Große und Ganze zu haben. Die einzigen Leute, die noch so sitzen, allerdings ohne dass sie auch nur irgendetwas zu bestimmen hätten (außer das Schicksal ihrer Figuren, glücklicherweise), sind Schriftsteller. Alle anderen Menschen sitzen wie in der Erwartung einer Guillotine oder zumindest eines Schraubstocks.
Die Person mit der diktierenden Haltung trug ein Kostüm von derselben Farbe wie meine Waffe, ein edles Holzkohlengrau. Sie würde bald eine tote Person sein: Annegrete Holdenried.
Ich schaute wieder hinüber zum Fernseher. Ich durfte meinen Auftrag ohnehin erst erfüllen, wenn Holdenrieds Verhandlungspartner – wer auch immer es war und worüber auch immer verhandelt werden sollte – ihr gegenübersaß. Der Boxkampf hatte noch nicht begonnen. Was man sah, waren Gesichter. Das Gesicht des Exweltmeisters, der sich redlich Mühe gab, wie ein netter, ernster, junger Mann auszusehen, während die Kamera sich bemühte, einen sehr bösen, unfeinen, gar nicht mehr so jungen Mann zu zeigen. Dann die Visage des weißen Südafrikaners. Er schien sich nicht sicher zu sein, was er darstellen wollte. Die Kamera auf jeden Fall wollte ein schwergewichtiges Opfer zeigen, wollte zeigen, wie der weiße Büffel zur Schlachtbank geführt wurde. Dann sah man die Köpfe berühmter Leute, Schauspielerköpfe, Sportlerköpfe, natürlich auch das Ikonengesicht des Größten, des Exchamps.
Es ging los. Wie so oft im Leben mit einer Überraschung. Der weiße Büffel führte den Kampf mit der Unverfrorenheit eines Mannes, den die eigene Angst in eine Darstellung von Furchtlosigkeit trieb, gerade dadurch, dass er gewisse Körperhaltungen des Größten nachahmte und die ganze Zeit den Mund offen hatte, wahrscheinlich irgendwelche unschönen Reden führte über die Mutter und den Vater seines Gegners und die ganze verdammte Negermischpoke. Gerade als die erste Runde zu Ende ging – oder eben nicht zu Ende ging, weil die beiden Herren trotz des Gongs weiter aufeinander einschlugen und deshalb eine Menge Offizieller, die etwas von einem Gefangenenchor besaßen, in den Ring stürmten –, in diesem dramatischen Moment also sprang einer der beiden Leibwächter zum Fernseher und schaltete ihn ab, während der andere Haltung annahm. Ich spürte ihre Verzweiflung. Das war der dümmste aller Momente. Weitere Männer kamen ins Zimmer, groß gewachsene, breite, junge Burschen, bis auf einen, auch nicht gerade klein, auch ein wenig breit, aber sicher nicht jung, der folgerichtig als Einziger in den nächsten Raum trat, Frau Holdenried die Hand gab und sich ihr gegenüber an den Tisch setzte, sodass ich jetzt nur noch seinen Rücken und seinen gepflegten Hinterkopf sah. Aber ich hatte ihn bereits erkannt. Es handelte sich um einen bedeutenden Vertreter der Sozialdemokratischen Partei, welchen ich Tage zuvor im Fernsehen gesehen hatte. Früher hätte man von einem Chefideologen der
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