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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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rechten Flanke gesprochen, jetzt sagte man Stratege, Manager, Realpolitiker, New Labourianer. Aber mehr als sein Gesicht und seine ungefähre politische Einstellung kannte ich nicht. In jedem Fall war mir seine Anwesenheit unangenehm. Einmal, da er sehr ungünstig saß und durch seine nervösen oder auch nur morgendlich-vitalen Kopfbewegungen mir immer wieder die Sicht auf Frau Holdenried versperrte, andererseits, da mir nun bewusst wurde, dass man die Erschießung der Holdenried natürlich als ein versuchtes Attentat auf diesen Politiker auslegen und die Fahndung darum eine ganz andere, vermutlich ehrgeizigere sein würde. Genau so hatte Köpple sich das gedacht. Der Tod seiner Lebensgefährtin sollte nach »verirrter Kugel« aussehen.
    Es wäre nett von Geislhöringer gewesen, mich diesbezüglich aufzuklären. Es wäre korrekt gewesen. In Wirklichkeit hatte der durchtriebene Bayer so getan, als träfe Frau Holdenried bloß irgendeinen nicht allzu bedeutenden Bankmenschen. Nun, ich durfte mich nicht wundern. Was hatte ich erwartet?
    Ich schob den Feldstecher nach rechts. Der Fernseher lief wieder. Nun waren es fünf Männer, die sich den Kampf anschauten, von denen glücklicherweise vier saßen und einer an der Ausgangstür lehnte, sodass mein Blick auf den Schirm passabel war. Allerdings hatte ich, wie auch die anderen, zwei Runden versäumt. Der weiße Büffel stand noch immer, benahm sich rotzfrech, schlug zu, redete und erprobte, wie weit er die Arme baumeln lassen konnte, ohne sich ein Pfund einzufangen – ein Schauspieler, den mitten auf der Bühne der Größenwahnsinn befällt, der seinen Text ignoriert, der auf die ganze dramatische Literatur spuckt, auf Shakespeare, auf die Klassiker, auf die Souffleure, die Promotoren, und der aus dem Stegreif heraus etwas völlig Eigenes spricht. Das hätte einen Iron Mike natürlich beeindrucken müssen, dass sein Gegner übergeschnappt war. Aber der Exweltmeister tat zumindest so, als würde es ihn irritieren. Als wollte er der Welt zeigen, wie er, der Bad Boy, der in Wirklichkeit ein netter, ernster, junger Mann war, es mit der Angst bekam.
    In der Rundenpause der vierten zur fünften Runde tauschte ich meinen Feldstecher mit dem Zielfernrohr der Birlewanger&Ruth und nahm Frau Holdenried ins Visier, die ihrem Gegenüber einiges zu erzählen hatte, wobei sie gelassen und selbstsicher wirkte, als hätte sie zu verkaufen, was jedermann wollte.
    Dann schwenkte ich wieder hinüber zum Boxen. Schaute kurz auf die Uhr. Mir stand nur noch wenig Zeit zur Verfügung, um die Holdenried zu liquidieren. Diese eine Runde noch, schwor ich mir. Der weiße Büffel sah weiterhin gut aus, servierte eine schöne Rechte, so wie man eine Liebeserklärung anbringt. Die Frage war nur, ob ihm vor dem Ende aller Zeit ein bedeutender, ein bewegender, ein unmissverständlicher Schlusssatz einfiel. Oder ob er zumindest zu einem Vortrag fand, den man über die gesamte Distanz durchstehen konnte.
    Ich lenkte die Waffe zu Frau Holdenried. Sie rauchte. Ließ den anderen reden. Wirkte zufrieden.
    Erneut schaute ich nach dem Boxkampf. Keine zwanzig Sekunden mehr in der fünften Runde. Der Südafrikaner nahm den Arm zurück, um eine Gerade zu schlagen. Es sah aus, als wollte er den Schlag aus einem am Rücken angebrachten Köcher herausziehen. Iron Mike holte nicht aus. Er schlug einfach zu, aus dem Schultergelenk. Einfacher ging es gar nicht. Auch wenn Kraft dahintersteckte, es war wie Kochen mit Fertiggerichten. Rein in die Mikrowelle und fertig, aus.
    Der Schlag traf den Gegner am Kinn. Dann lag der weiße Büffel am Boden, nur noch stotternd, in der Not auf den eingelernten Text zurückgreifend, jetzt wieder das Tier spielend, das von einer Kugel getroffen daliegt und sich aufzurichten versucht, ein narkotisierter Elefant, der halb hochkommt und erneut zurückfällt. Der Büffel fiel in die Seile, wurde ausgezählt, und Ende. – Ich bewegte die Waffe ein Stück nach links, legte mein Fadenkreuz über Holdenrieds Gesicht, sodass der Zielpunkt auf Höhe der Stirnhöhle lag. Der Schädel des Sozialdemokraten befand sich in einem vernünftigen Abstand dazu. Auch wenn die Kugel noch in meinem Gewehr steckte, so rollte sie nicht mehr. Virtuell gesehen, war sie bereits ins Loch gefallen. Zero.
    Aber eben nur virtuell. Denn gleichzeitig mit der Bewegung meines den Abzug betätigenden Fingers drang die Erkenntnis in mein Bewusstsein, dass ich diese Frau nicht töten dürfe, da sie nicht die war, die zu

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