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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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genießen.
    »Deutscher in Amerika, schätze ich.«
    Ich schwieg.
    »Dort möchte ich nicht leben müssen.«
    »Und ich möchte nicht in Deutschland leben. Zumindest nicht in Stuttgart«, parierte ich.
    »Sie haben schon recht. Ich denke, London wäre fein.«
    »Fein wäre ein Haus im Grünen.«
    Sie erwähnte einen Freund, der sich ein Bauernhaus gemietet hatte, um dort allein zu leben und Schweine zu züchten.
    »Schweine sind in Ordnung«, sagte ich.
    »Nach einem Jahr hat er alles verkauft und sich aufgehängt.«
    Es hörte sich an, als wäre sie stolz, einen Selbstmörder zu kennen. Sie erzählte noch einige andere Schauergeschichten von Leuten, die irgendwie zu Tode gekommen waren.
    »Schlimm«, sagte ich hin und wieder, so wie man »Prost« sagt.
    Endlich wechselte sie den Platz und stellte sich zu einem Jungen, der gut zu ihr passte. Er trug eine Wurstpelle von einem Hemd. Durch sein kurzes, dunkles Haar ging seitlich – wie ein böses Omen – der Streifen einer schmalen Glatze. Große Ohren, aber ein hübsches Gesicht, fand ich. Das Mädchen zog ihm die Zigarette aus dem Mund, rauchte sie zu Ende. Das volle und das halb volle Bierglas hatte sie stehen lassen.
    Nach einer Viertelstunde stand sie wieder neben mir. Ich war mir nicht zu blöd, sie auf die beiden schal gewordenen Biere hinzuweisen.
    »Ich mag Bier nicht«, erklärte sie. »Cocktails mag ich.«
    »Interessant. Warum hast du mich dann nicht um einen Cocktail gebeten?«
    »Ich kenne Sie doch kaum.«
    »Für ein Bier scheint es aber zu reichen.«
    »Für ein Bier schon. Ich muss es ja nicht trinken.«
    »Ich hätte aber lieber für einen Cocktail bezahlt, den du trinkst, als für ein Bier, das du nicht trinkst.«
    »Das verstehen Sie nicht. Das hat mit Würde zu tun.«
    »Würde?«, höhnte ich. Aber es war schon richtig. Das Mädchen und ich hatten nur eins gemein: dass wir dieselbe schlechte Luft atmeten. Und auch das erst seit einer Stunde. Mit Menschen zu reden, die vierzig, dreißig oder auch nur zwanzig Jahre jünger sind, bedeutet nicht, mit Gegnern zu sprechen, sondern mit Fremden, welche Rituale praktizieren, die uns abschrecken. Die Generationen sehen sich an, und was sie sehen, ist die Barbarei der anderen. Und es ist wie mit den Schwarzen und den Weißen. Irgendwie haben sie alle recht.
    Der Junge war zu uns getreten und hatte den Arm um die Schulter des Mädchens gelegt. Er spitzte die Lippen, als schicke er mir einen Kuss. Kaum anzunehmen, dass er das nett meinte.
    »Komm, wir gehen«, sagte das Mädchen. Und zu mir: »Sie sollten Schweine züchten.«
    Ich trank noch ein Pils. Niemand redete mich mehr an. Um zwei Uhr zahlte ich. Der Rechnung nach zu urteilen, hielt man mich für debil oder für einen Skandinavier, oder es existierten Zulagen, von denen ich noch nichts wusste. Egal. Ich hatte genug Bibeln verkauft. Ich konnte es mir leisten.
    Für den Turm war es noch zu früh. Und viel zu kalt. Weshalb ich in eine Bar ging, wo Leute meines Alters saßen. Vor jedem Gast stand ein großes dickes Glas, als würden diese Männer Aquarien spazieren führen. Jemand spielte Klavier und tat so, als mache ihm das Freude. Ich bestellte Kaffee.
    Um Viertel vor vier betrat ich die Halle des Hauptbahnhofs. Ein paar Polizisten standen im Kreis, auf den Füßen wippend, die Arme verschränkt, mit den Händen die Oberarme abklopfend. Sie unterhielten sich. Dazu zwei, drei Passagiere auf ihren Kofferbergen und einige Tauben, die pickend über den Boden zogen. Tauben bei Nacht. Diese Vögel schlafen nicht. Sie nutzen jeder Stunde Gunst. Ich mag Tauben. Mich beeindruckt, wie sie es sich zwischen den Menschen eingerichtet haben. Sie fallen nicht auf. Ihr Kot fällt auf. Aber nicht die Tauben selbst. Ich kann Menschen verstehen, die glauben, Außerirdische würden unter uns leben und uns studieren. Wenn Douglas Adams meint, das wären die Mäuse, hat er meines Erachtens unrecht. Es sind die Tauben.
    Ich durchquerte die Halle und erreichte den Aufzug, der den Turm hinaufführte. Natürlich war er um diese Zeit üblicherweise außer Betrieb. Doch Geislhöringer hatte versprochen, der Lift würde in Funktion sein. Ausnahmsweise hielt er sein Versprechen. Ein Druck auf den Schalter, und die Metalltür glitt zur Seite. Ich stieg ein und fuhr hinauf zum achten Stock, wo sich das Bistro befand, das im Dunkel lag. Im Gang jedoch brannte Licht. Auf einer schmalen Treppe stieg ich zwei weitere Stockwerke empor und trat schließlich hinaus auf die

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