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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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psychische Konstitution üblicherweise so anlege, dass ich mich zu dem Zeitpunkt, da ich meinen Auftrag erfülle, stets in bester Verfassung befinde. Auch körperlich, soweit das möglich ist. Nicht, dass ich abnehme, bevor ich jemanden umbringe. Aber zumindest bin ich immer gesund. Jetzt allerdings schnupfte ich, fühlte mich leicht fiebrig, ermattet. Nichts war wie sonst. Ich schimpfte mich einen verliebten Deppen. Und hatte in diesem Moment das große Bedürfnis, ungerecht zu sein und dieses Land zu hassen, in dem sich alle so normal gaben, wo keiner ein Sonderling sein wollte, während in Wirklichkeit nicht wenige überaus sonderbar wirkten. Man muss hier nur einmal mit der Stadtbahn fahren und sieht es sofort: Einer flog über das Kuckucksnest, bloß dass all diese Verrückten Normale spielen, aber schlecht spielen – eben Laiendarsteller, die zum Outrieren neigen und unwillentlich das Normale persiflieren. Die Schwaben hat man nach dem Zweiten Weltkrieg gezwungen, Normale zu spielen, so wie die Ungarn jetzt Demokraten spielen und die Russen Selbstmörder und die Kenianer Langstreckenläufer und die Polen Hilfsarbeiter. Die Chinesen werden gezwungen, Chinesen zu spielen. Ganz gleich, ob sie jetzt Kommunisten oder Kapitalisten sind oder beides, sie müssen Chinesen spielen, also vollkommen uniforme, fleißig-brutale, gelbe Wesen. Jawohl, die Chinesen müssen das Gelbe spielen. Denn sie sind ja nicht gelb. Ich war schon mehrmals in China. Entweder sind die Chinesen weiß oder dunkel wie Nordafrikaner. Aber in der aufgezwungenen Selbstdarstellung sind sie gelb. Wenn sie arbeiten, schmutzig gelb, bedrohlich gelb. Wenn sie auf Parteitagen in die Hände klatschen, immer nur in die Hände klatschen (selbst die Redner reden nicht, sondern klatschen in die Hände), ist es ein gelbes Klatschen.
    Ich weiß, das sind Übertreibungen, aber die Wut trieb mich dazu – und in der Übertreibung sah ich die Wahrheit auf sehr gefällige Weise aufblitzen.
    Ich duschte, zog mich warm an, steckte den Feldstecher in die Manteltasche, nahm meinen Waffenkoffer und verließ das Hotel. Um halb zwölf betrat ich eine kleine pavillonartige Kneipe, die unweit einer stark befahrenen Straße aufgepflanzt stand. Darin drängten sich junge Leute, erhitzt, lautstark, à la mode. Ich stellte mich an die Bar. Die Kellnerin schaute mich an wie den Exoten, der ich war. Eigentlich schaute sie mich an, als wäre ich zu alt, ein Bier bestellen zu dürfen, als hätte ein über Fünfzigjähriger um diese Zeit nichts auf der Straße verloren, so wie er nichts in einem Auto oder einem Büro verloren hat. Prinzipiell gebe ich der Jugend recht. Ein alter Mensch gehört nicht in die Großstadt. Er gehört aufs Land. Dort soll er Bauer werden. Das wäre besser für alle. Aber so läuft es eben nicht.
    Immer dann, wenn ich daranging, einen Auftrag zu erledigen, war mir feierlich zumute. Derart, dass ich zuvor gern eine dicke Zigarre rauchte. So auch jetzt. Die jungen Leute betrachteten mich mitleidig.
    »Haben Sie so was nötig?« Wer das gesagt hatte, war ein schmalgesichtiges Mädchen, keine achtzehn, mit Haaren wie schwarze Spaghetti. Von der im Licht rötlichen Haut abgesehen, war auch sonst alles an ihr schwarz. Sie hatte sich und ihr Bier neben mich gestellt.
    Ich sagte »Ja« und wandte mich ab.
    »Auf der Suche?«, fragte sie in meinen Rücken hinein.
    »Ich habe alles, was ich brauche.« Wie zur Bestätigung betrachtete ich mein soeben serviertes Pils.
    »Hu, Sie sind ja richtig selbstbewusst.«
    »Bloß bescheiden.«
    »So sehen Sie nicht aus.«
    »Verzieh dich.«
    Ich war selbst schuld. Mit manchen Leuten darf man einfach nicht reden. Spricht man mit ihnen, egal wie unfreundlich, wird man sie nicht mehr los.
    »Geben Sie mir ein Bier aus?«, fragte das Mädchen.
    Ich nickte in der unsinnigen Hoffnung, sie würde mich dann in Frieden lassen. Tat sie aber nicht. Sie gab eine Bestellung auf, obwohl sie noch ein halb volles Glas vor sich stehen hatte. Dann erzählte sie mir irgendeine traurige Geschichte, dass sie kein Geld habe. – Ich mag zwar ein Opa sein, aber ein wenig von der neuen Zeit bekomme ich schon noch mit. Die Sportbrille, die wie eine Jagdtrophäe in ihrem Haar steckte, war von Oakley, und die Taucheruhr, die sie trug, wozu auch immer, war sicher kein Werbegeschenk. Ich konnte mir vorstellen, dass sie von ihren Eltern ganz gut bezahlt wurde.
    »Sie sind nicht von hier«, stellte sie fest.
    Ich sagte nichts, versuchte, meine Zigarre zu

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