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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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töten man mich beauftragt hatte. Natürlich stand der Gedanke nicht so klar im Raum, wie sich das hier anhören mag. In dieser Spanne von nicht einmal einer Sekunde kollidierte mein Handeln mit einer plötzlichen Ahnung. Ich wollte schießen, und ich wollte nicht schießen. Der Kompromiss: Ich schoss, aber ich schoss daneben.
    Ein Kompromiss, der für einen renommierten Auftragsmörder natürlich fatal ist. Ein Mann wie ich trifft entweder oder schießt gar nicht erst. Dazwischen darf es nichts geben. Gab es nun aber. Wenigstens hatte ich den Politiker nicht erwischt. Schlimmer als ein bloßer Fehlschuss wäre der falsche Tote gewesen. Einen richtigen, eine richtige gab es aber nicht. Von meinem Standpunkt gesehen. Ich hatte es gerade noch erkannt: ihre beiden Ohrläppchen. Sie besaßen dieselbe durchschnittliche Form. Kein Unterschied zwischen links und rechts, zwischen klein und fett und länglich und flach. Auch wenn diese Frau wie die auf den Fotos aussah – für die Ohrläppchen galt das nicht. Die waren falsch. Und nachdem ich nicht annahm, dass Frau Holdenried in den paar Tagen ihre Ohrläppchen hatte korrigieren lassen, und auch nicht davon ausging, dass ihr so etwas überhaupt in den Sinn kam, war für mich klar, dass die Frau, die ich im Visier gehabt hatte, jemand anders sein musste. Oder umgekehrt, dass die Frau auf den Fotos nicht Annegrete Holdenried war.
    Da war keine Zeit, mir weitere Gedanken zu machen. Geislhöringer hatte zwar versichert, dass ich problemlos den Bahnhofsbereich würde verlassen können, aber wie sicher konnte ich mir noch sein? Hinzu kam, dass ich meinen Auftrag nicht erfüllt hatte. Und da ich in dem Ruf stand, nie und nimmer mein Ziel zu verfehlen, es tatsächlich noch nie verfehlt hatte, würde man vielleicht auf die Idee kommen, dass ich den Braten gerochen und mit Absicht danebengeschossen hatte. Dann allerdings war ich für Köpple weniger eine Niete als eine Bedrohung. Er würde sicher nichts riskieren wollen. Was bedeutete, dass ich meinerseits sehr bald auf der Abschussliste stehen würde. Der schlimmere Verdacht war der, dass ich längst darauf stand.
    Es war auch keine Zeit, die Waffe auseinanderzunehmen. Ich ließ den Aluminiumkoffer stehen, stieg die Treppen hinunter zum Lift und fuhr nach unten. Ich stand in dieser geschlossenen Kabine, stützte mich auf meine Waffe wie auf einen Stock, war erschöpft und frustriert, aber immerhin froh, dass die grotesken Umstände es mit sich gebracht hatten, dass ich den perfekten Schlag Iron Mikes gesehen hatte, der alles andere als ein Glückstreffer gewesen war. Ich stand hier in Erwartung der sich öffnenden Aufzugtür, in Erwartung eines Kugelhagels. Und tatsächlich, als die Tür zur Seite glitt, erkannte ich eine Anhäufung von Menschen, die in olivgrün und braun gekleidet waren. Ich schloss die Augen, wie man automatisch die Augen schließt, wenn man seinen Kopf in den Wasserstrahl einer Dusche hält. Oder in den Himmel sieht, obwohl es eben zu regnen begonnen hat. Ich fühlte mich nicht leicht, auch nicht schwer. Kein Engel reichte mir die Hand. Gott blieb stumm. Ich wartete. Doch weil nichts kam, nichts mein Fleisch und meine Knochen durchschlug, ich keine warnenden, drohenden Stimmen vernahm, sondern bloß ein gleichmäßiges Gemurmel, aus dem eine einzelne Stimme sich erhob und sagte: »Ja, onser Schwobaland«, schlug ich die Augen auf und erkannte mit etwas präziserem Blick, dass es sich bei den Personen um ältere Herrschaften handelte, die in Wanderkleidung steckten. Obwohl der Pulk keine drei Schritte entfernt war, sah niemand zu mir herüber, da sämtliche Augen auf eine Wanderkarte gerichtet waren, die von vielen Händen wie ein Sprungtuch auseinandergehalten wurde. Und dieses Bild stimmte. Das Bild vom Sprungtuch. Ich war vom Turm gestürzt, in dieses Tuch hinein. Ich drückte auf die Tastatur und stieg aus dem Lift. Meine Birlewanger&Ruth fuhr wieder allein aufwärts, während ich mich in die Gruppe der Wanderer stellte. Sie kamen nicht dazu, sich über diesen Neuzugang zu wundern, da wir mit einem Mal von hochnervösen Polizisten umgeben waren, welche uns mit der nötigen Heftigkeit aus dem Gefahrenbereich beförderten, während Scharfschützen vor der Lifttür in Schussposition gingen beziehungsweise über den Eingang der benachbarten Nottreppe in den Turmkomplex eindrangen. Sie waren schnell hier gewesen. Verdächtig schnell. Und doch nicht schnell genug.
    Zusammen mit der Wandergruppe wurde ich aus dem

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