Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
Bahnhof eskortiert. Hinter einer bereits aufgezogenen Absperrung wurden wir abgestellt und von einem Streifenpolizisten aufgefordert, nach Hause zu gehen. Da wurde es mir schmerzlich bewusst. Ich sah aus wie ein Rentner. Einer, dem man – auch im Straßenmantel – sofort ansieht, dass ihm nur noch das Wandern, der Altertumsverein, das Abenteuer regionaler Geologie und das Interesse an alemannischer Besiedlung geblieben sind. Zwei Tage zuvor hatte ich eine wunderbare Frau erobert. Minuten zuvor einen Schuss abgegeben. Nichts davon trauten diese Polizisten mir zu. Nichts. Schon gar nicht, dass ich der Mann war, den sie jagen, den sie eliminieren sollten.
Die Wandertruppe machte nicht die geringsten Anstalten, sich aufzulösen. Zu aufregend war das, was sie zu sehen bekam. Immer mehr Polizeiwagen verstellten den Platz vor dem Bahnhofsgebäude. Sirenen. Lichter. Militärisch ausstaffierte Männer, die in geduckter Haltung die Stufen hinaufjagten. Kirchweihatmosphäre. Dann, wie zur Krönung, Motorenlärm am Himmel. Ein Hubschrauber schoss über die Turmspitze hinweg. Immer wieder. Mir schien, als zittere der Stern.
Ich löste mich aus der Gruppe jener Leute, die mich gerettet hatten, die für mich die Feuerwehr meines Lebens gewesen waren. Ich schwor mir, nie mehr ein böses Wort über Zeitgenossen zu verlieren, die Sonntag für Sonntag frühmorgens die Städte hinter sich ließen, um in die Natur einzufallen.
Es wäre verführerisch gewesen, so nahe dem Geschehen in ein weiches Bett zu sinken. Über die Sache zu schlafen, während draußen ein Kampf tobte, der ohne Gegner auskommen musste. Doch ich mied das Hotel. Konnte nicht ausschließen, dass Geislhöringers Leute sich beeilten, dort aufzukreuzen. Papiere und Geld hatte ich bei mir. Und ein großes, gewagtes Ziel: Ich war lebend aus diesem Turm herausgekommen, jetzt wollte ich auch noch lebend in meine Heimat zurückkehren. Allerdings wäre es falsch gewesen, mich damit zu beeilen.
Ich spazierte die Königstraße hinunter. Es war tatsächlich ein Spazieren. Ich schaute in die eine oder andere beleuchtete Auslage, rauchte im Gehen, was in meinem Alter etwas Bonvivanthaftes besitzt, betrachtete eine Gruppe betrunkener Jugendlicher, die auf dem eisigen Boden sitzend einen Kreis gebildet hatten und eine Dose Bier herumgehen ließen, als handle es sich um den dicksten Joint ihres Lebens. Ihr Atem dampfte.
Am Rand eines ausgedehnten Platzes, um den herum Gebäude standen wie abgedankte Majestäten, stieg ich in ein Taxi (ich war jetzt ein Schlächter meiner Prinzipien) und nannte dem Fahrer eine Adresse im Westen der Stadt. Während der Fahrt fragte er, ob ich etwas von dem Aufmarsch am Hauptbahnhof mitbekommen hätte. Er wartete meine Antwort nicht ab, schilderte, was er gesehen hatte, bevor die Polizei ihn von seinem Standplatz verjagt hatte.
»Wie im Krieg«, sagte er.
»Sie waren im Krieg?«, fragte ich den Mann, einen Deutschen, der keine dreißig sein konnte. Meine Frage schien ihn beleidigt zu haben. Er schwieg für den Rest der Fahrt.
Ich läutete an dem Schild mit der Nummer fünfundzwanzig, auf welchem der Name Ute Utz aufgedruckt war. Ich war überzeugt, dass die Frau sich in ihrer neuen Existenz anders nannte, ein wenig glamouröser. Ich blieb eine halbe Minute mit dem Daumen am Druckknopf, bis endlich eine beißende Stimme durch die Anlage dröhnte und wissen wollte, welcher Gehirnamputierte auf ihrer Klingel stehe. »Gehirnamputiert« war eine mir unbekannte Formulierung, die ich nicht gleich verstand und mir erst durch den Kopf gehen ließ. Dann erklärte ich, dass ich mein Paket abholen wolle. In etwas gemäßigterem Tonfall fragte die Frau, ob ich die beiden restlichen Tausender dabeihätte. Ich bejahte. Die Tür sprang auf.
Als ich aus dem Aufzug trat, stand sie an der Wohnungstür. Sie trug einen Hausmantel, der mich an eine wattierte Rüstung erinnerte. Auch ihr Gesicht besaß etwas Wattiertes. Als hätte sie sich kleine Pölsterchen unter die Wangen und die Stirn geschoben. Ihre Augen waren zwei schmale Rinnen, aus denen es tröpfelte. Ich meinte, ihr aufgestelltes Haar knistern zu hören. Aber das war wohl eher die Deckenbeleuchtung.
»Es ist sieben Uhr«, stöhnte sie, während sie am Türstock lehnte und ihre Hände in Gebetshaltung aneinanderrieb.
»Richtig«, sagte ich und folgte ihr in die Wohnung. Szirba befand sich noch immer dort, wo ich ihn abgelegt hatte, auf dem toten Zebra. Er sah nicht sehr gesund aus. Eine gewisse trübe
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