Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
rötliche Flecken.
    Wir gingen die sonntäglich leere Straße hinunter, Arm in Arm, zwei Freunde, hätte man meinen mögen, die in der Einsamkeit, bedrückt von Witwer- oder Junggesellentum, zueinandergefunden hatten. So oder so ähnlich. Wir stiegen in eine Straßenbahn. Ich hatte nicht mal nach der Nummer gesehen.
    Wir saßen nebeneinander, sprachen kein Wort. Um uns lärmende Kinder, die den Wagen hinauf und hinunter liefen. Ein Mädchen blieb vor uns stehen, betrachtete uns abwechselnd, schamlos, wie ein kleiner, böser Gott, der seinen Geschöpfen beim Sterben zuschaut.
    »Warum bist du so dick?«, sagte sie zu mir. »Und warum ist der da so hässlich?«
    Der Fehler ist, wenn man Kinder nicht ernst nimmt. Ich nahm dieses kleine Monster sofort ernst. Und knurrte. Sagte etwas darüber, dass sie selbst recht fett sei. Erst recht ihr Haar. Widerlich! Die Kleine rannte heulend nach hinten zu ihrer Mutter. Nach einer Weile rief mir die Frau etwas zu. Ich verstand kein Wort. Grinste in mich hinein, koboldisch, zutiefst befriedigt. Manchmal braucht man das.
    Ich hätte ewig hier sitzen können. Es war angenehm warm. Draußen eine Stadt, die wie in einer Schlammpackung im Sonntag steckte. Kinder und Mütter waren ausgestiegen. Ich hatte ihnen zugewinkt. Nie hätte ich mich früher derart exponiert, auch im größten Rausch nicht.
    Als wir in eine Station einfuhren, erhob sich zu meiner Überraschung Szirba. Nun war er es, der meinen Arm nahm und mich aus dem Wagen hinausführte. Er schien sich in dieser Gegend auszukennen und steuerte in eine kleine, dunkle Kneipe. Ich hatte noch nie im Leben eine so verdreckte Bude gesehen. Die Vorhänge waren dermaßen steif vom Schmutz, dass sie wie Wellblech vor den Fenstern standen. Die Tapeten erinnerten an alte Plakatwände. Es kostete mich einige Überwindung, auf einem der Polstersessel Platz zu nehmen. Weniger der vielen undefinierbaren Flecken wegen. Aber ich vermutete im Inneren des Sitzteils eine ungeheuerliche Ansammlung lebender und toter Tierchen. Es fühlte sich an, als hocke man auf einer großen, dicken Zunge oder einem Stapel überdimensionierter Wurstblätter. Ich bevorzugte die zweite Vorstellung. Und zündete mir rasch eine Zigarette an. Das war mein Wirkstoff gegen Hepatitis. Der Qualm zog durch einen Streifen gelbstichigen Lichts. Woher auch immer dieses Licht kam. Durch die Fenster konnte es nicht gedrungen sein. Und Lampen brannten keine. Oder sie brannten, und man sah es bloß nicht, weil der gepresste Staub die Lichtkörper vollständig umgab. Auf den Tischen standen Türme hundertfach zusammengeschmolzener Kerzen, dazu aus Aluminium geformte Aschenbecher, in denen mehr Hühnerknochen als Kippen lagen. Eine kleine Kurbel, die unter der Tischplatte hervorsah, verwies auf eine Zeit, als man es noch schick gefunden hatte, die Höhe eines Tisches jeweils nach seinem Benutzer und – komplizierter – nach seinen Benutzern einzustellen. Wann war das gewesen? Wahrscheinlich Mitte der Siebzigerjahre, als der Biedermeier wieder aufkam und man es gemütlich haben wollte. Während in der Zwischenzeit ein erbarmungslos guter Geschmack auch die Unbedarftesten eingeholt hatte und die Vorstellung von einem Tisch eher philosophischer Natur war. Folglich war der wirkliche Tisch mehr ein Objekt der Betrachtung als der Benutzung.
    Szirba setzte sich mir gegenüber nieder und legte seine »grüne« Hand auf der Tischplatte ab. Dabei stöhnte er auf.
    »Haben Sie Schmerzen?«, fragte ich. Ich wollte einfach testen, ob er das Wort »ja« noch beherrschte.
    Er sagte: »Durst.«
    Ich schaute mich nach einer Bedienung um. Hinter einem aus Saunalatten gezimmerten Tresen stand ein Mann, der aussah, als sei er schon immer hier gestanden, von Anbeginn der Zeit, und als wäre diese Gaststätte um ihn herum gebaut worden. Der Mann war sozusagen die Urzelle, in der alle Informationen steckten, die nötig waren, um einen solchen Raum entstehen zu lassen. Und dann das Haus, das den Raum umgab. Und dann die Stadt, in welcher dieses Haus stand. Auch wenn Stuttgart augenscheinlich ziemlich wenig mit diesem Mann und dieser Kneipe gemein hatte. Aber so ist das eben. Im Großen verschwindet die Idee, die hinter allem steht. Dieser Mann war quasi der Stuttgarter Samen, das Abbild dieses Samens, eine verbliebene Hülle, ein Samenmantel, etwas in dieser Art. Er wirkte ein wenig unbeweglich. Ein Samenmantel eben. Das wirklich Erstaunliche jedoch war, dass hinter ihm – in fünf, sechs Regalen, die

Weitere Kostenlose Bücher