Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
bebaute Tal und hinüber zu bewaldeten Hängen. Das Schild neben der Gegensprechanlage war ein weißes, leeres Rechteck. Das Tor zu einer kleinen Einfahrt war offen, auf dem Parkplatz lagerten Bauschutt und Gerüststangen. Über diese Stelle gelangten wir vor die Eingangstür, läuteten. Es war Geislhöringer, der uns öffnete. Als er mich sah, machten seine Augen einen Sprung nach vorn, während sein linkes Bein einen Schritt zurück tat.
»Sind Sie wahnsinnig geworden?«, stieß er hervor.
»Man wird es mit der Zeit«, sagte ich und wollte eintreten. Geislhöringer versuchte, mich daran zu hindern. So kräftig gebaut er auch war, in diesem Moment vermochte er nicht zu überzeugen, wirkte unsicher. Außerdem bin auch ich kräftig gebaut. Es fiel mir nicht schwer, ihn zur Seite zu drängen.
»Was fällt Ihnen ein! Sie können doch nicht…«
»Wir müssen reden«, sagte ich, während ich bereits mitten im Vorraum stand und ein Landschaftsgemälde betrachtete. Nicht, weil ich mich dafür interessierte. Ich wollte unserem Eindringen bloß ein wenig an Schärfe nehmen.
»Münchner Schule«, riet ich.
»Wer ist das?«, fragte Geislhöringer.
Ich drehte mich zu ihm und blickte ihn erstaunt an. »Münchner Schule?«
»Hören Sie auf, Jooß. Sie wissen doch, was ich meine. Wer ist der Kerl da?« Er zeigte auf Szirba.
Ich sagte Geislhöringer, dass er das doch eigentlich selbst wissen müsste. Immerhin hätte er den Tod dieses Mannes in Auftrag gegeben.
»Wie?«, fragte Geislhöringer.
Weil Szirba beharrlich schwieg, stellte ich ihn vor: »Das ist der Österreicher. Bötschs Retter.«
»Ach so«, meinte der Bayer abfällig.
Bevor er auch nur versuchen konnte, mich daran zu hindern, betrat ich den ebenerdigen Wohnraum, ein mit Jugendstilmobiliar sparsam eingerichtetes und im Licht der Dämmerung und einer Stehlampe glosendes Zimmer. Ein Adagio von einem Zimmer. Verstärkt noch durch die eine Person, die neben der Lampe auf einem weißen Stuhl saß und mit leicht schwärmerischem Blick in die Luft sah. Freilich war ich überzeugt, dass dieser Person alles Schwärmerische fernlag: Annegrete Holdenried.
Welche Holdenried, konnte ich nicht sagen, da zwei massive Clips die Ohrläppchen abdeckten. Sie schaute zu mir herüber und lächelte, als würde sie sich über meinen Zweifel freuen.
Geislhöringer stürmte mir hinterher. »Ich verbiete Ihnen …«
Die Frau legte mit einer knappen, bestimmten Geste seinen Redeschwall lahm. So, wie sie da saß, schien sie aus der Schreckensküche eines gequälten Irrationalisten zu stammen, verführerisch und dominant, schlangenhaft. Aber das ist natürlich Unsinn. Sie setzte bloß ihre Macht ein, um einen Prozess abzukürzen, der nun unumgänglich geworden war.
Ich erklärte ihr, dass ich der Killer sei. Der unfolgsame Killer, ergänzte ich. Und stellte nun auch Herrn Szirba vor. Der geschmackvoll eingerichtete Raum erzwang geradezu eine gewisse Etikette.
»Wo lag der Fehler?«, fragte Holdenried und sah zu Geislhöringer. Doch ihre Frage konnte nur mir gegolten haben. Ich sagte: »Die Ohren. Daran habe ich mich gestoßen. Die Ohren waren falsch. Die Frau, die ich ins Visier genommen hatte, besaß gleichmäßige Ohrläppchen. Nicht aber die Frau auf den Fotos. So einen Unterschied zwischen links und rechts sieht man selten.«
»Diese dumme Kuh«, stöhnte Holdenried, »ich habe ihr doch gesagt, es sei wichtig, dass sie die Ohrclips trägt.«
»Sie haben absichtlich danebengeschossen?«, fragte Geislhöringer, der langsam zu begreifen schien.
»Das habe ich dir doch gesagt«, ersparte Frau Holdenried mir eine Antwort. Und zwar die richtige Holdenried, zumindest wenn man von den Fotos ausging. Denn als sie nun den Kopf einmal nach links und dann nach rechts neigte und die beiden Schmuckstücke wie Wäscheklammern abzog, war deutlich der Unterschied zwischen den beiden Ohrläppchen zu erkennen.
Also wollte ich wissen, wer die Frau war, die ich hatte erschießen sollen. Eine Schauspielerin? Eine Zwillingsschwester?
»Eine Hochstaplerin«, sagte Annegrete Holdenried, »eine Frau, die mir erstaunlich ähnlich sieht, eine kleine Gaunerin, die sich für mich ausgab. Sie hat in einigen Boutiquen und bei Juwelieren groß eingekauft und dann anschreiben lassen. Die Gute hat in zwei Tagen ein kleines Vermögen verbraten. Sie würden staunen. Das kommt gar nicht so selten vor. Es soll jemanden geben, der wie unser Kanzler aussieht und ständig Journalisten Interviews gibt. Sie
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