Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
Durchsichtigkeit hatte sich seiner Haut bemächtigt, als wären Fleisch und Knochen nur noch von einer dünnen Folie umspannt. Die im Schal eingebundene Hand ruhte auf seiner Brust, wie etwas Eigenständiges, Losgetrenntes. Die Augen waren leicht geöffnet, aus den Schlitzen schimmerte es blassrosa. Auch wirkte er abgemagert und ausgetrocknet, mumifiziert, als liege hier der letzte Österreicher in einem Schaukasten, konserviert von einer deutschen Tierpräparatorin. Fälschlicherweise auf die Attrappe eines Fells gelegt, das mit Österreich nun rein gar nichts zu tun hatte. Ethnologische Ungenauigkeit.
    »Was haben Sie mit ihm gemacht?«, fragte ich und fühlte Szirbas Puls, das heißt, ich wollte wissen, ob er überhaupt noch einen besaß.
    Ute Utz ließ sich in einen braun und beigefarben gestreiften Fauteuil fallen und zündete sich eine Zigarette an, auf eine lasziv-cineastische Weise, die mit Sicherheit ihrem neuen Leben entstammte. Sie schenkte dem österreichischen Schauobjekt einen mitleidlosen Blick und meinte, dass sie dem Mann eben hin und wieder ein paar Schlaftabletten, ein paar Tranquilizer, Betablocker, ein wenig Rotwein und Hustentropfen – alles in Maßen – verabreicht habe.
    »Warum in Herrgottsnamen Hustentropfen?«
    »Der Mann hat gehustet. Was denken Sie denn? Ich wollte nicht, dass er mir hier krank wird.«
    Szirbas Puls ging unregelmäßig, aber er ging. Ich zog ein Lid in die Höhe. Was sich mir zeigte, war ein Auge, das aussah wie eine in viel zu viel Öl eingelegte große Kaper. Das Öl war von vielen roten Fäden durchzogen. Die Kaper aber sah in Ordnung aus – für eine Kaper. Gut, ich habe keine Ahnung von Medizin. Dieses Auge sagte mir gar nichts, außer dass es einen ekligen Anblick bot. Was wusste ich schon. Vielleicht lebte dieser Mann nur noch, weil er Hustentropfen eingenommen hatte.
    Ich richtete ihn auf. Sein Kopf sackte wie der eines Neugeborenen zur Seite. Ich hakte mich von hinten unter seine Arme ein, hob ihn vom Zebra und zog ihn ins Badezimmer. Während er noch vor Tagen, als ich ihn aus dem Hotel geschleppt hatte, schwer gewesen war, meinte ich nun einen untergewichtigen Knaben in den Armen zu halten. Ich setzte ihn auf seine Knie, lehnte ihn mit der Brust gegen den Rand der Badewanne und hielt dabei seine Stirn fest. Dann drehte ich das kalte Wasser auf und richtete den Strahl auf seinen Kopf.
    Er rührte sich nicht. Es kam mir vor, als würde ich ein totes Huhn abwaschen. Doch dann kam Leben in Szirba. Er begann zu zappeln, zu husten, was mir kurz ins Bewusstsein rief, dass eine kalte Dusche wohl nicht das Richtige war für eine Verkühlung. Oder doch? Mir fiel dieser deutsche Katholik ein: Kneipp. Wie auch immer, Szirba war am Leben. Und als hätte auch sein Körper diesen für ihn überraschenden Umstand akzeptiert, reagierte er entsprechend und entließ seinen Mageninhalt. In kurzen Folgen erbrach Szirba einen hellen, vom Rotwein nur schwach gefärbten Strom. Abstoßend, und doch erfreulich. Ein wenig fühlte ich mich wie einer von diesen Vätern, die den ersten Stuhlgang ihres Sohnes mit Stolz erleben und sich dies als eigenes Verdienst anrechnen.
    Allerdings schien ich zu den Vätern zu gehören, die vor lauter Begeisterung beinahe ihr Kind umbringen. Noch immer hielt ich den Wasserstrahl über Szirbas Kopf. Wir hatten immerhin Winter, und kaltes Wasser war wirklich kalt . Ich vereiste den Jungen, der kein Junge mehr war. Rasch drehte ich das Wasser ab und zog ein Handtuch von der Halterung, welches ich über Szirbas Kopf zog; dann begann ich so intensiv zu rubbeln, als versuchte ich einen Erfrorenen ins Leben zurückzuholen. Szirba war zu schwach, um sich gegen irgendetwas zu wehren.
    Natürlich war seine Kleidung nass geworden. Ich zog sie ihm vom Körper und packte ihn in einen Bademantel, hielt seinen Kopf eine ganze Weile unter einen Heizstrahler. Dann trug ich den Mann zurück ins Wohnzimmer, wo ich ihn nicht wieder auf das Zebra zurücklegte, sondern in einen Stuhl aus schwarzem Cordstoff setzte. Ich richtete ihn wie eine Puppe ein, den Kopf in der Mitte, das Kinn nach oben, und platzierte seine Arme – als wären sie die Stützräder eines Fahrrads – auf den Stuhllehnen. Dann drückte ich die Beine in einen rechten Winkel, sodass die Fußsohlen vollständig auf dem Teppichboden auflagen. Ich trat zurück, betrachtete ihn, jetzt selbst wie ein Präparator. Ich hatte soeben mein eigenes Bild vom letzten Österreicher geschaffen. Cord passte besser als

Weitere Kostenlose Bücher