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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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Hände auf seine Knie, drehte die Ellbogen nach außen und stemmte sich auf die Füße. »Nach Ihnen«, sagte er und die zwei verließen die Kapelle.
    Kenneth lotste ihn durch die kleine Vorhalle, die zum Ausgang des Klosters führte. Jenseits des Haupttors fielen die Hänge des Devil’s Diadem steil bis nach Thunderstown ab, dessen Dächer unter dem dunklen Regen nahezu unsichtbar waren. Aus dieser Entfernung erinnerte Finns Wolke an eine Qualle und der heftige Niederschlag an Tentakel, die über die Dächer peitschten. Nun war auch der letzte Rest des farbenfrohen Sonnenuntergangs verschwunden und ein Ring aus Sternen umrahmte das Gewitter.
    Die Felsen und kahlen Berghänge lagen totenstill da, doch als ein Blitz durch die Wolken zuckte, leuchteten sie auf und wirkten so zerbrechlich und weiß wie Porzellan. Wenige Augenblicke später folgte der Donner, ein dröhnender Laut, den man sowohl hören als auch spüren konnte.
    Die zwei Männer lehnten sich mit dem Rücken an die Klostermauer, während Kenneth die Bierdosen aufriss und eine davon Daniel reichte. Er trank einen Schluck, Daniel dagegen starrte durch die Öffnung seiner Dose auf die dunkle Flüssigkeit in ihrem Inneren.
    »Es ist meine Schuld«, sagte Kenneth nach einem Schluck, »weil ich sie hätte warnen müssen. Ich hatte so oft die Gelegenheit, Elsa mehr über diese Stadt zu erzählen, aber ich habe es nie getan. Wahrscheinlich aus Angst, dass sie mich auslachen könnte. Ich habe sie in diese Stadt geholt, wo sie außer mir niemanden kannte, und trotzdem habe ich sie nie vor den Gefahren gewarnt.«
    Daniel hob die Augenbrauen und nahm einen großen Schluck von seinem Bier. »Es ist nicht Ihre Schuld. Ich trage die Verantwortung. Ich hätte Sidney Moses aufhalten müssen.«
    »Das hätten Sie nicht gekonnt. Sie waren doch gar nicht dabei.«
    »Genau.«
    Kenneth seufzte. »Wir könnten uns bis in alle Ewigkeit über das hier streiten.«
    Kurz herrschte Schweigen.
    »Es ist schon ziemlich lange her«, sagte er dann, »seit Michael verschwunden ist.«
    »Ja.«
    »Habe ich Ihnen jemals gesagt, wie dankbar ich Ihnen bin, für alles, was Sie damals getan haben?«
    »Ja«, erwiderte Daniel. »Sie haben mir eine Flasche geschenkt.«
    Er erinnerte sich an den Rum, den Kenneth ihm überreicht hatte, süß und scharf zugleich, so als würde man eine Wabe Honig mitsamt den Bienen, die ihn gemacht hatten, essen. Er hatte ihn mit Betty getrunken – sie hatten seine Stärke unterschätzt und waren schon nach kurzer Zeit zusammengesunken eingedöst.
    Doch er erinnerte sich noch genau an den Grund für das Geschenk, die vielen Male, die er in den kleinen Bergsee getaucht war, in dessen Nähe Michael zuletzt gesehen worden war. Daran, wie er das düstere Wasser nach Spuren von ihm abgesucht und nichts gefunden hatte. Wieder und wieder hatte er es versucht, noch lange, nachdem alle anderen Helfer die Suche aufgegeben hatten, war auf- und wieder abgetaucht, bis er nicht mehr zwischen Luft und Wasser hatte unterscheiden können. Erst als er in seiner Hektik Flüssigkeit eingeatmet hatte, hatte er aufgehört, und auch dann nur, weil sein Körper ihn im Stich gelassen hatte. Seine Lunge hatte sich verkrampft und er musste sich geschlagen ans Ufer legen.
    »Ich wünschte«, sagte Kenneth, »ich hätte an seiner Stelle ertrinken können.« Er hielt kurz inne, um seiner Gefühle wieder Herr zu werden. »Heute ist mir klar geworden, dass ich in Elsa, ohne es zu wollen, ein bisschen einen Ersatz für Michael gesehen habe. Sie um mich zu haben, ihre Schritte auf der Treppe zu hören, ihr Singen unter der Dusche, ihr Ein- und Ausgehen zu jeder Tages- und Nachtzeit – einfach nur eine junge Seele im Haus zu haben.«
    Daniel nickte.
    »Und jetzt, wenn ich sie in diesem Bett liegen sehe und es ihr so schlecht geht …« Er erschauderte. »Es ist furchtbar.«
    »Sie kommt schon wieder in Ordnung. Sie ist kräftig genug, um das durchzustehen.«
    »Ja, natürlich, wenn man es so sieht. Aber es geht nicht nur darum, oder? Sie hat jemanden verloren. So etwas heilt nicht, wie ein Körper es vielleicht tut. Von jetzt an wird sie genauso weiterleben wie Sie und ich. Mit einem gebrochenen Herzen.«
    Schweigen.
    Kenneth stand auf und schüttelte seine leere Bierdose. »Ich sollte besser wieder reingehen und nach ihr sehen.«
    Daniel nickte und blickte ihm nach, als er ging. Er trank sein Bier aus, ließ die Dose auf den Boden fallen und drückte sie mit dem Stiefel zu einer flachen Scheibe

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